Debatte

»Heimlich benutzt und ausgeschlachtet«

Kritisiert das IfZ: der Historiker Götz Aly Foto: Ullstein

Herr Aly, das 1982 auf Deutsch erschienene Standardwerk von Raul Hilberg »Die Vernichtung der europäischen Juden« ist derzeit ein Bestseller in der Kategorie Geschichte/Nationalsozialismus auf Amazon. Hängt das mit der jüngsten Konferenz zum zenten Todestag von Hilberg zusammen – oder mit Ihrer scharfen Kritik an der früheren Verhinderung der Buchveröffentlichung?
Ich denke, mit beidem. Die Aufmerksamkeit für die Konferenz entstand auch durch die Auseinandersetzung damit, wie deutsche Verlage, deutsche Historiker und das Institut für Zeitgeschichte (IfZ) in München Raul Hilberg jahrzehntelang vom deutschen Buchmarkt ferngehalten haben. Historiker des IfZ hatten zuletzt 1980 ein negatives Gutachten gegen dieses Werk lanciert, das 1961 in den USA erschienen war. Sie haben es aber intern heimlich benutzt und für eigene Zwecke ausgeschlachtet.

Kritiker sagen, die Vorwürfe seien nicht neu.
Die Fakten sind durchaus neu, sonst hätte sich der »Heimatschutz« des IfZ, angeführt vom Kollegen Norbert Frei, nicht so aufgeregt. Für die deutschen Zeithistoriker müssen wir leider feststellen, dass sie seit 30 Jahren über die NS-Vergangenheit der Ärzte, der Lehrer, der Juristen geschrieben, dass sie einzelne Ministerien auf ihre Vergangenheit untersucht haben – sich aber immer wieder weigern, ihre eigene Geschichte selbstkritisch zu erforschen. Das Bundesarchiv hat schon vor Jahren versucht, die internen Akten des IfZ zu übernehmen und der interessierten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Die Münchner haben sich da-gegen gewehrt, aber bis heute die Bestände nicht sinnvoll erschlossen.

Das IfZ will jetzt eine Historikerkommission in eigener Sache einsetzen.
Historikerkommissionen bringen normalerweise wenig neue Erkenntnisse. Das Institut soll sein Archiv schleunigst ordnen, Findmittel ins Internet stellen und zur freien Forschung einladen. Mehr ist überhaupt nicht zu tun.

Sie haben Raul Hilberg 1984 in Stuttgart kennengelernt, bei seinem ersten Vortrag in Deutschland. Woran erinnern Sie sich?
Für einen Historiker war Hilberg ungewöhnlich bescheiden. Seine Eltern waren einfache galizische Juden, er floh 1938 als 13-Jähriger aus Wien, er hat sich seine Bildung selbst erarbeitet. Hilberg war sehr genau in seiner Wortwahl, er trug auf amerikanische Art sehr präzise und klar vor, er las nicht irgendein Manuskript ab. Er pflegte eine nüchterne Sprache, völlig frei von moralisierenden Ad-jektiven. Und er war stolz darauf, dass er Politische Wissenschaft studiert hatte, weil er glaubte, dass man den Nationalsozialismus als politischen Prozess begreifen müsse.

Woran erinnern Sie sich noch?
Hilberg hat sich als Atheist verstanden, gelebtes Judentum war ihm fremd. Eine seiner Töchter hat sich übrigens von ihrem Vater losgesagt, ist orthodox geworden und nach Israel gegangen. Und der Historiker Yehuda Bauer, ehemaliger Leiter des International Center for Holocaust Studies in Yad Vashem, hat dann zwischen Vater und Tochter vermittelt.

Wie ging Hilberg damit um, dass sein Werk in Deutschland erst so spät Anerkennung erfuhr?
Er war naiv. Einmal bemerkte er: »Sie hätten mein Buch doch für die NS-Prozesse gebraucht.« Er konnte sich offensichtlich nicht vorstellen, dass für die Gutachten aus seinem Buch abgeschrieben wurde, dass man ihn aber nicht als Konkurrenten auf dem Markt haben und auch die reiche Quelle für einige Erkenntnisse dem deutschen Publikum nicht preisgeben wollte.

Auch in Israel wurde »Die Vernichtung der europäische Juden« erst sehr spät übersetzt. 1958 hat Yad Vashem von einer Übersetzung abgeraten.
Ja, Hilberg hat die hebräische Ausgabe seines Buchs nicht mehr erlebt – immerhin erlebte er 2006 noch die Entscheidung, es endlich zu übersetzen. Mir hat er dazu gesagt: »Sie wollen, dass ich mehr über den Widerstand schrei- be. Aber es hat doch kaum Widerstand gegeben, also kann ich nicht darüber schreiben.« Tatsächlich: Wenn man Hilberg liest, stützt das den Eindruck, dass die Juden wie Schafe zur Schlachtbank geführt wurden. Das wollte man in Israel nicht hören, das widersprach der durchaus notwendigen kämpferischen Raison d’être des neu gegründeten Staates.

Ich habe Raul Hilberg 2006 bei seinem letzten Vortrag in Berlin erlebt. Er sprach unter anderem darüber, dass es keinen Führerbefehl zur Vernichtung der Juden gab. Hilberg erwähnte eine Anordnung des Reichsführers SS, Heinrich Himmler, von 1941, in der Gegend um den Prypjat-Fluss seien jüdische Männer zu erschießen, während man jüdische Frauen und Kinder »in die Sümpfe treiben« solle. Doch wenig später wurden auch Frauen und Kinder erschossen, obwohl keine Anweisung vorlag.
Ja, man sprach nicht von Mord, man sprach von Deportation und Endlösung. Und »in die Sümpfe treiben« konnte man, ähnlich wie den Madagaskar-Plan, als Synonym für schnelles Sterben begreifen. Das war Hilbergs Spezialität, er hat immer sehr genau die Verantwortung der einzelnen Beteiligten herausgearbeitet und auch die Handlungsspielräume jedes Einzelnen.

Die Pogrome vom 9. November 1938 gelten als Auftakt zum Holocaust. Was lesen wir darüber bei Raul Hilberg?
Wenig. Denn Hilberg wollte den politischen Prozess aufseiten der Täter beschreiben. Der Historiker Saul Friedländer hat dagegen in »Das Dritte Reich und die Juden« eindrucksvoll die Sichtweisen der Verfolgten integriert. Nach der Pogromnacht am 9. November 1938 wurden 25.000 jüdische Männer in KZs gebracht, gedemütigt und gefoltert. Viele Hunderte wurden ermordet. Bei Saul Friedländer ist das viel ausführlicher dargestellt als bei Hilberg, der in den 60er-Jahren allerdings auch wenig Zugang zu entsprechenden Quellen hatte. Aber Friedländer hat ausdrücklich gesagt, dass er sein Werk ohne Hilbergs Leistung nicht hätte schreiben können.

Mit dem Politologen und Historiker sprach Ayala Goldmann. Von Götz Aly erschien zuletzt »Europa gegen die Juden. 1880–1945« (S. Fischer).

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