Jubiläum

Ungebrochene Tradition

Bewegt verfolgt Ruth Westheimer (89) den Freitagabend-Gottesdienst in der Synagoge Pestalozzistraße. Es ist Dezember 2016. Gerade hat die berühmte Sexualwissenschaftlerin einen Vortrag auf dem Gemeindetag gehalten.

Der Besuch in der Charlottenburger Synagoge wird für sie zur emotionalen Reise in die Zeit ihrer Kindheit – zurück in die Jahre vor der Schoa, als auch in der Frankfurter Synagoge, die sie als Kind regelmäßig besuchte, das Lecha dodi zu den Harmonien von Louis Lewandowski erklang.

Was die Synagoge Pestalozzistraße einzigartig in der Welt macht, ist nicht die Begrüßung der Braut Schabbat zu Lewandowskis Musik, wohl aber der von ihm komplett durchkomponierte Gottesdienst. »Seine Musik versteht die Seele der Gebete«, schwärmt die Organistin und Chorleiterin Regina Yantian.

weltruhm Regelmäßig kommen jüdische Besucher aus der ganzen Welt in die Charlottenburger Synagoge. Nicht jeder mag diesen Ritus mit gemischtem vierstimmigen Chor und der Orgel. Dabei waren vor der Schoa die meisten Synagogengemeinden in Deutschland liberale jüdische Gemeinden mit Orgel und gemischtem Chor.

Diejenigen, die dieses Gebäude vor mehr als 100 Jahren errichten ließen, hätten das sogar ganz gewiss nicht gemocht. Schließlich standen bei der Einweihung am 19. Mai 1912 hinter dem Bauträger traditionsbewusste Juden, denen solche Formen der Assimilierung entschieden zu weit gingen. Wer so etwas mochte, ging damals in die Oranienburger Straße. Doch nach dem Krieg war die dortige Synagoge vollständig zerstört, und da sie im sowjetischen Sektor lag, war auch kaum anzunehmen, dass sie bald wieder aufgebaut werden würde. So fand die liberale Tradition schließlich in der Pestalozzistraße eine Heimstatt.

Die Theaterwissenschaftlerin Esther Slevogt hat für ein kleines Bändchen in der Reihe »Jüdische Miniaturen« viele interessante Geschichten über »ihre« Synagoge zusammengetragen. Beim Quellenstudium war der Autorin das Dokument »Bauakte Blatt 218« in die Hände gefallen, in dem nach der Pogromnacht 1938 die Brandstellen penibel festgehalten worden waren. Dem Gabbai Hermann Schwarz war es in jener Nacht unter Lebensgefahr noch gelungen, eine Torarolle zu retten, doch bis zum Ende der Naziherrschaft wurde die Synagoge nicht wieder geöffnet.

anlaufstelle Nur wenige Tage nach der Befreiung nahm bereits in den vorderen Räumen des Gebäudekomplexes eine Küche den Betrieb auf und wurde zu einer Anlaufstelle für KZ-Überlebende und Juden, die den Krieg als sogenannte U-Boote überlebt hatten. Am 2. Juni 1945 fand im heutigen Kiddusch-Raum der erste Nachkriegs-Gottesdienst statt, und zu Rosch Haschana desselben Jahres wurde dieser Betraum rituell geweiht.

Im Dezember 1946 wurde bei einer großen Chanukkafeier im »Grand Casino am Zoo« das erste Mal der Name eines aus Thessaloniki stammenden Auschwitz-Überlebenden genannt, der vorerst noch als Unterhaltungssänger auftrat: Estrongo Nachama. Zur Purimfeier 1947 war er dann schon Kantor in der Pestalozzistraße und sollte es für mehr als ein halbes Jahrhundert bleiben.

Nachdem im Juli 1947 ein erstes Wohltätigkeitsfest für den Wiederaufbau der Synagoge stattgefunden hatte, war es zu Rosch Haschana dann so weit: 35 Jahre und vier Monate nach der ersten Weihe wurde der Synagogenraum erneut eröffnet.

neuanfang Die Wiedereröffnung vor 70 Jahren kommentiert Esther Slevogt in ihrem kleinen Buch so: »Ob es für Juden in Deutschland je wieder eine Zukunft geben könnte, war damit jedoch keineswegs gewisser geworden.« Kaum jemand hielt einen Neubeginn damals für möglich.

Inzwischen sind die zweite, dritte und vierte Generation der damaligen Beterschaft der lebendige Beweis eines aktiven Judentums. Kaum jemand lässt in seinen Erinnerungen Estrongo Nachama unerwähnt. Avitall Gerstetter spricht mit großem Respekt von dem Mann, der ihre eigene Entwicklung als Sängerin wesentlich mitbestimmt hat. »Noch heute verspüre ich ein wohliges Gefühl, wenn ich daran denke, mit welch großer Ruhe und Kraft er den Kiddusch gesungen hat«, sagt sie, die in der Synagoge Oranienburger Straße heute selbst als Kantorin amtiert.

Joachim Will, seit 30 Jahren im Synagogenvorstand, besuchte als Zehnjähriger mit den Eltern erstmalig diese Synagoge. Es war die Zeit, als der Schammes noch einen Gehrock und viele Beter einen »Homburg« trugen, einen Herrenhut aus Filz mit hochgebogener, eingefasster Krempe. Was dem Knirps sofort gefiel, war, dass die Kinder zum Kiddusch auf die Bima gebeten und dafür mit einer Tafel Schokolade belohnt wurden. Das gibt es in der Pestalozzistraße bis heute, und niemand weiß, woher diese Tradition stammt.

festival Der Unternehmer Heinz Rothholz, Großcousin von Alexander Rothholz, der in der Wiederaufbauphase eine wesentliche Rolle spielte, lebte damals in Ost-Berlin. Ihm ist die Rührung deutlich anzumerken, wenn er davon erzählt, wie er nach dem Fall der Mauer erstmalig wieder die Synagoge betrat, die er zuletzt als Jugendlicher besuchen konnte.

Wenn heute alljährlich das Louis Lewandowski Festival in der Pestalozzistraße eröffnet wird, so ist das auch Heinz Rothholz zu verdanken. Er hat einen wesentlichen Anteil daran, dass es dieses Festival überhaupt gibt.

Im Sommer 2013 hatte die ehemalige Polizistin Dagmar Otschik-Alpern die Idee, in der Zeit vor Chanukka einen Basar zu veranstalten. Mit diesem Vorschlag traf die Tochter des ehemaligen Schammes bei den Gabbaim auf offene Ohren. Seither wirbt sie schon vor Rosch Haschana für das, was dann an einem Sonntag im Dezember im Gemeindehaus in der Fasanenstraße stattfinden wird.

mittelpunkt Dass sich der liberale Ritus, der in Berlin seine Wurzeln hat, erhalten hat und die Synagoge sich seit ihrer Wiedereinweihung zum liberal-jüdischen Mittelpunkt im Westen der Stadt entwickelte, ist vielen engagierten Rabbinern zu verdanken, darunter Persönlichkeiten wie Nathan Peter Levinson, Cuno Lehrmann, Manfred Lubliner, Ernst Stein, Ernst Ludwig Ehrlich und Tovia Ben-Chorin. Hier sprach 1951 auch Rabbiner Leo Baeck, der bedeutendste Vertreter des deutschen liberalen Judentums, beim Festgottesdienst.

Ganz in der Tradition der Pestalozzistraße amtiert seit zwei Jahren Rabbiner Jonah Sievers in dem neoromanischen Backsteingebäude. Der 46-Jährige legt ein nicht unwesentliches Augenmerk auf die Familien und vor allem auf deren Kinder. Da finden Hoffeste mit Musik statt, gemeinsames Challa-Backen ebenso wie Familien-Kidduschim und Aktivitäten für Jugendliche. »Wenn es mir gelingt, auch die Jugend für diese Tradition mit dem Lewandowski-Ritus zu begeistern«, sagt der Rabbiner zur Vision seiner Amtszeit, »dann habe ich viel erreicht.«

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