Puppentheater

Geschichten ohne Worte

Es geht einfach nicht. Ziemlich verzweifelt sitzt die junge Frau an ihrem Tisch und schreibt. Hört auf, verzieht das Gesicht, reißt das Papier vom Block, zerknüllt es und wirft es angewidert weg. Schreibt wieder, zerknüllt, wirft fort. Bis sie auf einem riesigen Haufen Papierkugeln sitzt – alles verworfene Ideen, nicht gelungene Ansätze. Doch dann raschelt es plötzlich.

Die Papierbälle rutschen, und mit einem Mal erwacht ein Knäuel zum Leben, richtet sich auf, entfaltet sich – im wahrsten Sinn des Wortes. Wird zu einer Figur, mit breitem Körper, kleinem Kopf und langen Armen. Langsam nähert sich die Papierfigur der Frau. Sie unterhalten sich mit Gesten, kommen ganz ohne Worte aus. Dann entdeckt die Figur eine kleine Papierblume, pflückt sie und reicht sie der Frau, die sie sich hinter das Ohr steckt.

Figur Plötzlich erscheinen wie aus dem Nichts weiße Papierwolken, unerreichbar für die kleine Figur. Dabei möchte sie so gerne eine Wolke anfassen, reckt sich danach. Die Frau hebt sie hoch, und kaum hat die kleine Figur eine Wolke berührt, regnet es Papierfetzen, Blumen wachsen und Bäume.

Mit einer verzaubernden, magischen Vorstellung ihres Figurentheaterstücks Niyar (Papier) eröffnete die israelische Künstlerin Maayan Iungman im März die 12. marottinale, das Figurentheaterfestival der Karlsruher »marotte«. Seit zweieinhalb Jahren tritt sie mit diesem »Stück ohne Worte« vor allem auf Festivals, aber auch in ihrer neuen Heimatstadt Berlin auf.

In Niyar spielt sie mit den Möglichkeiten des Materials: knautscht eine Papierseite zusammen, zieht an drei Enden – und schon entsteht daraus ein Pferd, das in weiten Sprüngen durch die Luft fliegt. In Sekundenschnelle verwandeln Maayan Iungmans Hände das filigrane Material in eine Landschaft, Vögel, einen Wald – Andeutungen, die genügen, sodass die Zuschauer sich sofort in ihre eigenen, persönlichen Geschichten fallen lassen können.

Argentinien Vor 34 Jahren in Jerusalem geboren, verbrachte Maayan Iungman die ersten elf Jahre in einem Dorf bei Jerusalem, bis die Familie in ein kleines Dorf nach Galiläa zog. Ihr Vater war mit 17 Jahren aus Argentinien eingewandert, ihre Mutter ist waschechte Jerusalemerin. Maayan reiste viel, lebte in Barcelona und Tel Aviv, ein Jahr in Indien, bevor sie erst in Jerusalem an der School of Visual Theatre und später in Galiläa am Shlomi Center for Alternative Theatre studierte: Puppentheater, Bühnenbild, Kunst, später auch Regie und Schauspielerei. Außerdem lernte sie alternative Medizin.

»Meine Lehrer und Bekannten sagten mir immer wieder, ich solle mich auf eine Sache konzentrieren«, meint Iungman. Doch sie brauche »alles und auch so unterschiedliche Sachen, um wirklich kreativ sein zu können«. Das sei sicher auch ein Familienerbe, meint sie.

rendezvous Denn ihre Eltern – der Vater ist selbst Puppenspieler, ihre Mutter Architektin und Designerin – haben die vier Kinder immer wieder ermutigt, alles auszuprobieren und in ihrem Atelier am »kreativen Tisch« im Kinderbereich zu werkeln.

Dann wurde ihr Israel zu klein, sagt sie. Bei einer Aufführung lernte sie Philipp kennen und zog nach dem ersten Rendezvous zu ihm nach Berlin – das war vor fünf Jahren. Ihr erstes Projekt in der neuen Stadt war die Mosaikfriedenswand Peace Wall in der Großen Hamburger Straße, am Eingang des jüdischen Friedhofs, bei der sie mit der Mosaikkünstlern Svenja Teichert und vielen Kindern und Anwohnern zusammenarbeitete. Später entwickelte sie ihr Stück Niyar.

Wenn Iungman Stücke entwirft, geht sie immer vom Material aus. Wenn sie davon erzählt, beginnen auch ihre Hände zu leben, tanzen in der Luft, formen Gegenstände und Beziehungen, sprechen miteinander. Lebhaft erzählt sie von den Kästchen, die sie so faszinieren, die so unterschiedlich sind, offen, geschlossen, aus verschiedenen Materialien – von ihnen wird ihr nächstes Stück erzählen: »Das Material macht auch etwas mit mir«, sagt sie. Es verändere sich, es erzähle seine eigenen Geschichten, »denen ich folgen muss«.

medium Ihre Kunst empfindet sie als gelungen, »wenn sie berührt, wenn man mit Fragen aus dem Stück kommt«. Gerade das Puppenspiel birgt für Iungman die meisten Möglichkeiten. So gibt es in ihrem Stück auch keine Geschlechter. Zudem haben die zum Leben erweckten Figuren keine Gesichter – so sind sie eine gute Projektionsfläche für den Zuschauer. Und es gibt keine Sprache, jedenfalls keine mit Worten. »Denn Worte legen Bedeutungen und Interpretationen fest, ich aber will Geschichten erzählen, die offen bleiben«, sagt die Künstlerin.

Dazu gehört für Maayan Iungman auch, dass sie als Spielerin selbst präsent ist, »ohne jedes Ego«. Dann fühle sie sich »mehr wie ein Medium, durch das die Puppen und Figuren zum Leben erweckt werden«. Iungmans nächste Projekte sind ein Animationsfilm, an dem sie seit einem Jahr mit dem Filmemacher Antonio Padovani arbeitet, und ein Buch, das sie mit der Autorin Theresa Sigusch schreibt und das sie illustriert. »Und das Baby«, wirft Philipp ein. »Und das Baby«, bestätigt Iungman lachend. Noch im Mai erwartet das Paar Nachwuchs. Die nächste Bühnenshow muss daher bis Herbst warten.

Berlin, ihre neue Heimat, findet Iungman »faszinierend, multikulturell und aufregend«. Doch eigentlich sei ihr die Stadt zu groß, sagt sie. Sie träumt oft vom Mittelmeer, von der Gelassenheit der Menschen dort, vom Klima und der Natur.

Besonders den Winter »mit seinem grauen Himmel« findet sie gewöhnungsbedürftig. Seitdem sie hier lebt, habe sie viel gelernt: Dass sie Jüdin ist, sei ihr in Israel gar nicht aufgefallen, sagt sie. »Meine Identität habe ich als selbstverständlich begriffen und – so praktiziert es meine Familie – eher kulturell als religiös.«

Hier in Deutschland werde sie plötzlich darauf angesprochen und zur Jüdin »gemacht«, findet sie. Auch dass für die Deutschen eine Orange »nach Weihnachten riecht«, habe sie erstaunt. Nah fühle sie sich etwa den libanesischen Verkäufern auf dem Markt, deren Handbewegungen sie versteht, weil sie sie aus ihrer Heimat kennt.

An Pessach kamen in diesem Jahr beide Familien zusammen – ihre aus Israel und die DDR-geprägte von Philipp. Dann mischt das deutsch-israelische Paar »kreativ und unbeschwert« Traditionen und Verhalten der Familien und Kulturkreise.

urgrossvater Auf ihren ungewöhnlich geschriebenen Nachnamen wird Iungman oft angesprochen. Der komme von ihrem Urgroßvater, der eigentlich »Jungmann« hieß, erzählt sie. Während eines Pogroms im Ersten Weltkrieg habe er in Notwehr einen deutschen Soldaten getötet. Das Dorf sammelte daraufhin für eine Fahrkarte nach Amerika.

Als er dort ankam, stellte er jedoch fest, dass er in Argentinien statt in den USA gelandet war. Die Einwanderungsbehörde fragte nach dem Namen und schrieb ihn mit »I« am Anfang. »Ein ›J‹ wird im Spanischen wie ›Ch‹ ausgesprochen«, erklärt die Enkelin.

Auch wenn der Name deutsch klingen mag, so verbirgt sich dahinter eine unerwartete Geschichte – so wie hinter Iungmans Potpourri aus Papier.

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