Thüringen

»Wir interessieren uns auch für die AfD«

»Es gibt eine Schnittmenge von Rechtsextremen und Rechtspopulisten«: Stephan J. Kramer Foto: PR

Herr Kramer, jüngst war zu lesen, dass in Thüringen die Zahl der rassistischen Vorfälle um 30 Prozent angestiegen ist. Wie beängstigend ist die Entwicklung?
Phänomene wie Rassismus, Antisemitismus und Ausländerhass sind differenziert zu betrachten. Im Blick des Verfassungsschutzes steht insbesondere die Radikalisierung im rechtsextremistischen Spektrum vor dem Hintergrund der Flüchtlingsdebatte und dem Aufkommen der sogenannten Neuen Rechten. Es ist nicht mehr der gewaltbereite, eine Bierdose in der Hand haltende Glatzkopf, sondern es sind durchaus Intellektuelle.

Die AfD wird vom Verfassungsschutz nicht beobachtet. Zählt die Partei nicht zur »Neuen Rechten«?
Wenn ich Neue Rechte höre, denke ich nicht sofort an die AfD. Mir fallen da eher die »Identitäre Bewegung« oder auch das »Institut für Staatspolitik« ein. Das sind, wenn man so will, andere Spielklassen. Es gibt zwar Kennverhältnisse zwischen der »Neuen Rechten« und AfD – man kennt sich und unternimmt manches zusammen. Aber wir dürfen auch nicht übersehen, dass die AfD eine demokratisch gewählte und legitimierte politische Kraft im Thüringer Landtag ist. Zurzeit ist die AfD nicht als verfassungsfeindlich einzustufen.

Die »Süddeutsche« spottete jüngst, die AfD sei für Sie kein Thema, aber die Splittergruppe »Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands«, MLPD, würde beobachtet.
Spott ist eine sehr schlechte Annäherung an diese Phänomene. Außerdem ist es ja nicht so, dass wir uns nicht für die AfD interessierten. Das Gegenteil ist der Fall. Wir beobachten sie allerdings nicht mit nachrichtendienstlichen Mitteln, denn das halten wir nicht für geboten. Aber, tatsächlich, die AfD interessiert uns, wir schauen uns allgemein zugängliche Verlautbarungen sehr genau an. Und was die MLPD angeht: Die propagiert offen den revolutionären Umsturz. Dafür müssen wir uns als Verfassungsschutz interessieren.

Der NPD wurde vom Bundesverfassungsgericht jüngst bestätigt, zu klein für ein Verbot zu sein.
Das NPD-Verfahren hat gezeigt, dass es bei der NPD derzeit an konkreten Anhaltspunkten von Gewicht fehlt, die das Durchsetzen ihrer verfassungsfeindlichen Ziele möglich erscheinen lassen. An der Verfassungsfeindlichkeit der Partei ließ das Urteil keinen Zweifel.

Die NPD wird beobachtet. Was fällt Ihnen da auf?
Es fällt auf, dass Vertreter der NPD eine bedeutende Rolle in anderen Verbänden und Bewegungen spielen. Etwa bei Thügida, die ja in Thüringen eine eindeutig rechtsextreme Bewegung ist.

Der Bundesrat will Parteien wie die NPD von der staatlichen Teilfinanzierung ausschließen. Ist das für Sie ein Thema?
Als Verfassungsschutzpräsident schaue ich mir die Politik der NPD an. Die Frage, ob sie an der Parteienfinanzierung partizipiert, geht an die politischen Entscheider. Da muss sich der Gesetzgeber positionieren.

2016 warnte BKA-Präsident Holger Münch vor der Gefahr einer neuen Terrorzelle. Genannt wurde auch Thüringen, wo der NSU entstanden war.
Wie anfangs gesagt: Wir schauen auf Radikalisierungstendenzen im rechtsextremen Milieu. Mitunter sehen sich dessen Akteure durch vermeintlich in der Mehrheitsgesellschaft vorhandene Skepsis gegenüber Flüchtlingen zu Gewalttaten inspiriert. Diverse Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte im Bundesgebiet sind Ausdruck dafür.

Worin zeigt sich die Radikalisierung der gesellschaftlichen Mitte?
Rechtsextremisten beanspruchen für sich, im Namen der »besorgten Bevölkerungsmehrheit« zu handeln. In diesem Zusammenhang sei auf die Festnahmen der »Gruppe Freital« in Sachsen verwiesen. Die Bundesanwaltschaft leitete hier Ermittlungen wegen des Verdachts auf Bildung einer rechtsterroristischen Vereinigung ein.

Und wie sieht es in Thüringen aus?
Hier lautet unsere Arbeitshypothese, dass es rechtsextreme Strukturen gibt, die terroristische Aktivitäten ermöglichen. Diese Arbeitshypothese basiert auf der Auswertung gewonnener Erkenntnisse. Wo Waffen- und Sprengstoff gesammelt werden, ist der Schritt zum Rechtsterrorismus oft nicht weit.

Bei der Entstehung des NSU hat Ihr Vorgänger beim Thüringer Verfassungsschutz eine schlimme Rolle gespielt.
Was die Aufarbeitung und das Ans-Licht-Bringen der offenen Fragen rund um den NSU angeht, muss ich an die verschiedenen Untersuchungsschüsse des Bundestages und der Landtage verweisen, und auch auf den Prozess in München. Dort wird wichtige Aufklärungsarbeit geleistet. Aus den Berichten der Ausschüsse geht ja hervor, dass eklatante Defizite zu beklagen waren.

Gerade in Thüringen.
Für den Verfassungsschutz in Thüringen kann man sagen: Mit der Neufassung des Thüringer Verfassungsschutzgesetzes wurden wesentliche Regelungen getroffen, einige Dinge neu justiert. Dazu zählen umfangreichere Berichtspflichten gegenüber parlamentarischen Gremien und die Implementierung innerbehördlicher Kontrollen. So sollen viele der offensichtlichen Defizite behoben werden. Derzeit sind wir dabei, eine Evaluation vorzubereiten, und eine Expertenkommission wird dann diese Evaluation bewerten. Es wäre aber zu früh, jetzt einen Strich ziehen und bilanzieren zu wollen.

Die Landesämter für Verfassungsschutz, gerade das in Thüringen, waren nach dem Auffliegen des NSU völlig diskreditiert.
Ich habe das Amt angetreten, weil ich eine Chance und den Willen zur Aufklärung gesehen habe. Ich gebe zu, dass ich unmittelbar nach Bekanntwerden des NSU auch für die Abschaffung des Amtes plädiert hatte.

Woran erkennt man die Neuausrichtung der Behörde in Erfurt? Was haben Sie verändert?

Der Verfassungsschutz Thüringen hat die Akten, die den NSU betreffen, komplett den parlamentarischen Untersuchungsausschüssen zur Verfügung gestellt – ohne Abstriche. Das war politisch und moralisch eine richtige Entscheidung. Aber nachrichtendienstlich war es eine Katastrophe, denn es hat die Zusammenarbeit mit anderen Nachrichtendiensten fast unmöglich gemacht. Dennoch war es nötig. Inzwischen ist es so, dass wir wieder mit anderen Diensten kooperieren können, das Vertrauen ist wiederhergestellt.

Können Sie auch etwas zu der Frage sagen, ob der Antisemitismus zunimmt? Oder liegt diese Frage nicht im Zuständigkeitsbereich Ihrer Behörde?
Das ist eine schwierige Frage. Und immer, wenn ich gebeten werde, etwas aus Sicht des Verfassungsschutzes zu Antisemitismus – aber auch zu Islamhass oder zu Homophobie – zu sagen, fällt mir das schwer. Das ist ja eine sogenannte gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. Unsere Aufgabe ist es ja nicht, die zu bekämpfen, sondern wir geben Lagebeurteilungen ab. Aber wir stellen fest, dass im rechtsextremistischen und rechtspopulistischen Bereich der Antisemitismus eine besondere Rolle spielt, nämlich eine motivierende. Zwar verzichten Rechtspopulisten darauf, offenen Judenhass zu propagieren, aber die Klischees werden oft bedient. Zudem gibt es immer wieder Schnittmengen zwischen offen antisemitischen Rechtsextremen und sich nicht offen äußernden Rechtspopulisten. Ich würde jedoch unsere Rolle überschätzen, wenn ich in Konkurrenz zu Forschungsinstituten träte, die das Phänomen des Antisemitismus besser erforschen.

Stephan J. Kramer
Von 2004 bis 2014 war Stephan J. Kramer Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland. Seit 2015 ist der Sozialpädagoge Präsident des Amtes für Verfassungsschutz in Thüringen. Kramer wurde vom Thüringer Ministerpräsidenten Bodo Ramelow (Linke) berufen, um nach der NSU-Affäre das Amt neu zu ordnen.

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