»Amerikanisches Idyll«

Ein tragischer Held

Ewan McGregors Verfilmung von Philip Roths Roman zeigt, wie fragil der amerikanische Traum in den 60ern war

von Michael Wuliger  15.11.2016 20:35 Uhr

Foto: pr

Ewan McGregors Verfilmung von Philip Roths Roman zeigt, wie fragil der amerikanische Traum in den 60ern war

von Michael Wuliger  15.11.2016 20:35 Uhr

Seymour Levov (Ewan McGregor) lebt den sprichwörtlichen amerikanischen Traum. Der Nachkomme ostjüdischer Immigranten ist Footballstar an der Highschool, wo er wegen seiner untypischen blonden Haare, hellen Haut und blauen Augen nur »Swede« genannt wird, der Schwede.

Nach dem Schulabschluss dient Levov als Offizier im Marine Corps, kehrt unbeschadet aus dem Zweiten Weltkrieg zurück und heiratet seine Jugendliebe Dawn (Jennifer Connelly), eine ehemalige Miss New Jersey. Die beiden bekommen eine Tochter, Meredith, liebevoll »Merry« genannt (Dakota Fanning). Dass die Katholikin Dawn darauf besteht, ihr Kind zu taufen und christlich zu erziehen, ist für Seymour kein Problem. Er versteht sich nicht mehr wirklich als Jude, sondern nur noch als Amerikaner.

New Jersey Es sind die 50er- und 60er-Jahre, das Goldene Zeitalter der USA. Seymour übernimmt die von seinem Vater Lou (Peter Riegert) gegründete Handschuhfabrik und baut das Unternehmen erfolgreich aus. Mit Frau und Tochter lebt er auf einem schönen Anwesen im ländlichen New Jersey.

Doch Mitte der 60er-Jahre bekommt das Amerikanische Idyll, so der Titel des Films nach Philip Roths gleichnamigem Roman, erste Risse – im Großen wie im persönlichen Kleinen. Der Vietnamkrieg spaltet das Land. Blutige Rassenunruhen brechen in den großen Städten aus. Und Seymours heranwachsende Tochter beginnt, wie viele ihrer Generation, zu rebellieren, nicht nur gegen die eigenen Eltern, sondern auch und vor allem gegen das »System«.

Merry schließt sich einer linken Terroristengruppe an, legt Bomben, tötet Menschen und geht auf der Flucht vor dem FBI in den Untergrund. Die Familie zerbricht. Dawn dreht durch und wird in die Psychiatrie eingewiesen, während Seymour obsessiv nach seiner Tochter sucht. Er findet sie schließlich auch, aber da ist es schon zu spät: Merry ist seelisch nicht mehr von dieser Welt. Gebrochen stirbt Seymour vor seiner Zeit. Am Ende des Films stehen die Protagonisten auf dem Friedhof und sagen Kaddisch für den tragischen Helden.

Philip Roths Amerikanisches Idyll, 1997 erschienen, gilt als eines der wichtigsten literarischen Werke der USA im 20. Jahrhundert. 1998 erhielt das Buch, das mit den Nachfolgebänden Mein Mann, der Kommunist und Der menschliche Makel Roths »Amerikanische Trilogie« bildet, den Pulitzerpreis. Das Magazin »Time« nahm es in seine Liste der 100. bedeutendsten amerikanischen Romane auf.

Debüt Doch die Verfilmung wird der Qualität der Vorlage nicht gerecht. Das liegt vor allem an Ewan McGregor, dem Hauptdarsteller. Der Schotte schafft es nicht, seiner Figur Leben einzuhauchen. Als Seymour wirkt er hölzern. Die Emotionen, die er simuliert, nimmt man ihm nicht ab. Und weil McGregor auch Regie führte – es ist sein Debüt als Regisseur –, zieht sich das Unbeholfene, Puppenspielartige, durch den ganzen Film. Die gesamten 100 Minuten lang, die der Film dauert, bleibt der Zuschauer seelisch unberührt. Die große Dramatik des Stoffs wird verschenkt.

Schwach ausgearbeitet ist auch der jüdische Aspekt der Geschichte. Dabei ist der in diesem, wie in allen Romanen Roths, zentral. Durch sein Gesamtwerk zieht sich als roter Faden die latente Brüchigkeit der auf der Oberfläche so erfolgreich scheinenden amerikanisch-jüdischen Assimilation – ein Thema, das dieser Tage gerade wieder aktuell ist. Doch im Film ist das Jüdische bloß requisitenhafte Folklore. Seymour könnte ebenso gut Italo-Amerikaner sein oder, seinem Spitznamen folgend, Schwede.

Roths Roman ist ein Meisterwerk. Was McGregor daraus gemacht hat, ist mittelmäßig. Für nur ein wenig mehr, als eine Kinokarte kostet, kann man das Buch kaufen. Das lohnt weit mehr als dieser Film.

Meinung

Antisemitische Verschwörungen, Holocaust-Relativierung, Täter-Opfer-Umkehr: Der Fall Samir

Der Schweizer Regisseur möchte öffentlich über seine wirren Thesen diskutieren. Doch bei Menschenhass hört der Dialog auf

von Philipp Peyman Engel  22.04.2024

Essay

Was der Satz »Nächstes Jahr in Jerusalem« bedeutet

Eine Erklärung von Alfred Bodenheimer

von Alfred Bodenheimer  22.04.2024

Sehen!

Moses als Netflix-Hit

Das »ins­pirierende« Dokudrama ist so übertrieben, dass es unabsichtlich lustig wird

von Sophie Albers Ben Chamo  22.04.2024

Immanuel Kant

Aufklärer mit Ressentiments

Obwohl sein Antisemitismus bekannt war, hat in der jüdischen Religionsphilosophie der Moderne kein Autor mehr Wirkung entfaltet

von Christoph Schulte  21.04.2024

TV

Bärbel Schäfer moderiert neuen »Notruf«

Die Autorin hofft, dass die Sendung auch den »echten Helden ein wenig Respekt« verschaffen kann

von Jonas-Erik Schmidt  21.04.2024

KZ-Gedenkstätten-Besuche

Pflicht oder Freiwilligkeit?

Die Zeitung »Welt« hat gefragt, wie man Jugendliche an die Thematik heranführen sollte

 21.04.2024

Memoir

Überlebenskampf und Neuanfang

Von Berlin über Sibirien, Teheran und Tel Aviv nach England: Der Journalist Daniel Finkelstein erzählt die Geschichte seiner Familie

von Alexander Kluy  21.04.2024

Glosse

Der Rest der Welt

Nur nicht selbst beteiligen oder Tipps für den Mietwagen in Israel

von Ayala Goldmann  20.04.2024

Frankfurt am Main

Bildungsstätte Anne Frank zeigt Chancen und Risiken von KI

Mit einem neuen Sammelband will sich die Institution gegen Diskriminierung im digitalen Raum stellen

von Greta Hüllmann  19.04.2024