Nachruf

So long, Leonard ...

Seine Lieder prägten seit den 60er-Jahren weltweit Generationen. Am Montag vergangener Woche starb der Sänger. Er wurde auf dem jüdischen Friedhof seiner Geburtsstadt Montreal beigesetzt. Foto: Ullstein

Cohen. Fünf Buchstaben auf grauem Stein. Keine Daten. Keine Zitate. In einem schlichten Kiefernsarg haben seine Tochter und sein Sohn ihn hinabgelassen zu seinen Eltern und Großeltern. So hatte er es sich gewünscht. Beerdigt, bevor die Welt von seinem Tod erfuhr.

Sein Grab auf dem Shaar Hashomayim Congregation Cemetery am Mount Royal Boulevard in Montreal birgt ihn, den großen Dichter, nicht nur bei seinen Vorfahren. Sein Grab ist auch das Ziel eines spirituellen Weges, den Leonard Cohen zeitlebens nie verlassen hat. Cohen. Der Priester. Ein Weiser aus einem alten Geschlecht von Kohanim, von Priestern.

Weltschmerz Klischees, die Leonard Cohen als Poeten des Weltschmerzes, als singenden Lyriker oder als den Meister der Melancholie beschreiben, greifen nicht nur zu kurz, sie werden ihm nicht einmal ansatzweise gerecht. Cohen erschien als sinnsuchender Held der Hippiekinder, als Popstar, der er nie sein wollte und der er nie war.

Ambivalenz hat sein Leben begleitet wie das eines jeden großen Künstlers, aber Cohen war in erster Linie Jude. Von Geburt an, sein Leben lang, immer. Das Judentum bildete die Folie, die religiöse Prägung und die metaphysische Basis seines Künstlerlebens mit all seinem Lieben und Leiden, mit seinen Umwegen, seiner Gottsuche, seiner Dichtung und seiner Musik.

»Die Sensitivität der Bibel« habe ihn beeinflusst, bekannte er einmal im Interview. »Ihr prophetischer und lyrischer Gehalt und ihr Gerechtigkeitssinn. (...) Jede kulturelle Gemeinschaft beeinflusst das Schaffen ihrer Mitglieder. Als Jude bin ich mir eben nur dieser Tradition bewusst; sie ist das Einzige, das man mich lehrte und das mich aus diesem Grunde geprägt hat. Ich weiß, dass ich Jude bin, ich weiß, woher ich stamme.«

schoa Geboren im sicheren Kanada in eine ebenso wohlhabenden wie geachteten Familie der jüdischen Gemeinde hat Leonard Cohen die ersten Gedichte mit 15 geschrieben und ist »mit einem Schlag erwachsen geworden«, als er die Fotografien aus den Konzentrationslagern jenseits des Atlantiks ansehen musste. Und der Holocaust klingt in vielen seiner Songs an, etwa in »The Partisan«: Oh, the wind, the wind is blowing/Through the graves the wind is blowing/Freedom soon will come/Then we’ll come from the shadows.« Nicht ein einziges Konzert hat Cohen gegeben, ohne »The Partisan« gespielt zu haben, die spätere heimliche Hymne der Solidarnosc-Bewegung in Polen.

Im Titelsong seines letzten Albums You Want It Darker, aufgenommen unter anderem in der Synagoge neben jenem Friedhof, auf dem er jetzt beerdigt wurde, spricht Leonard Cohen auf Hebräisch die Worte »Hineni, Hineni«. Hier bin ich. Wenig später erinnert er an jene Kinder, die während der Schoa ermordet wurden und derer Yad Vashem mit einer millionenfach gespiegelten Kerze gedenkt. »A Million candles burning for the love that never came./You want it darker./We kill the flame.«

Selbst in seiner scheinbar erotischsten Hymne, millionenfach auf YouTube angeklickt, seinem Walzer »Dance Me To The End Of Love« singt er von Kindern, die geboren werden wollen. »Dance me to the children who are asking to be born.« Cohen hatte von den Streichquartetten in den Todeslagern gelesen, deren Musiker die Opfer mit klassischen Melodien ins Gas begleiten mussten. Vor diesem Hintergrund komponierte und verdichtete er den Horror der KZ in die Zeile »Dance me to your beauty with a burning violin«. Eine brennende Geige. Schönheit, zu Tode getanzt.

Die Tradition seiner Familie und das Wissen um die Schoa haben auch seine Haltung zu Israel geprägt. Obwohl Cohen sonst politische Auseinandersetzungen vermied, blieb er dem jüdischen Staat zeitlebens loyal verbunden. Im Jom-Kippur-Krieg 1973 gab er für die Soldaten der israelischen Streitkräfte an der Front zahlreiche Konzerte. Manchmal bis zu acht Stück an einem Tag. Er wolle als Jude den Juden helfen, sollte er später sagen.

Mönch Aber wie verband sich diese lebenslange Treue zum Judentum mit seiner Praxis als Zenmönch (er lebte fünf Jahre in einem Zenkloster bei Los Angeles, nannte sich Jikan, »Der Stille«), mit seinen frühen Drogenerfahrungen und seinen vielen Liebesbeziehungen?

Cohen wollte das Judentum nie definieren, schreibt Christof Graf in seiner umfangreichen und sehr lesenswerten Cohen-Biografie Titan der Worte. Cohen betonte vor allem die Tradition: »Die Beschneidung ist für mich das Wesentliche, und zwar die Beschneidung des Gliedes und des Herzens – ich meine damit die wahre Herzensbildung. Herzensbildung erfolgt durch spezifisch jüdisches Erleben. Aber auch die, die außerhalb der jüdischen Gemeinde stehen, sich jedoch mit der jüdischen Tradition identifizieren möchten, können diese Erfahrung machen.« Zen sei für ihn keine Religion. »Zen ist Praxis. Meditation. Man hat die Möglichkeit, sich selbst zu studieren, von Anfang bis Ende.«

Der Zen-Buddhismus hat vor allem die Form seiner Kunst beeinflusst. Cohen liebte kurze Texte, Haikus, minimalistische Gedichte: »So wie die Zen-Meister, bevor sie sterben. Sie schreiben ein Gedicht über den Tod. Ein paar bescheidene Zeilen, ehe sie uns verlassen. Mehr wäre mein Leben auch nicht wert. Fünf oder sechs Zeilen, mehr nicht.« Mit einem solchen Haiku beschrieb Cohen die Sommer seiner Jugend: »Stille/und eine tiefere Stille/wenn die Grillen/zögern«.

Liebe Verlust war für Leonard Cohen die Mutter der Dichtung. Daher konnte er über die Liebe schöner, berührender und wahrhaftiger erzählen als die meisten Männer seiner Zeit. Cohen hat mit seinen Melodien und seinen poetischen Metaphern das Innerste des Mysteriums körperlicher und seelischer Anziehung besungen. Deshalb war, ist und bleibt er ein Frauentyp. Sein durchgebildetes, schon in der Jugend scharf profiliertes, dennoch sanft wirkendes Gesicht, seine vollendeten Manieren, sein Auftreten als Gentleman und seine dunkle, weiche und bis ins Alter erotischtiefe Stimme haben seine vielen Partnerinnen von Marianne über Suzanne bis hin zu Janis Joplin und viele seiner weiblichen Fans weltweit fasziniert.

Cohen wollte wie jeder große Künstler das Wesen der letzten Dinge ergründen und mit dem Geheimnis der Liebe verstehen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Neben der physischen Schönheit suchte er die seelische Wahrhaftigkeit seiner Gefährtinnen. Er tat dies leidenschaftlich und, bei jeder Liebe, bedingungslos. Bei Marianne (»So Long, Marianne«) ging diese Liebe weit über ihre zeitliche Grenze körperlicher Anziehungskraft hinaus. Beide hatten in den 70er-Jahren lange Zeit auf der griechischen Insel Hydra zusammengelebt. Als Marianne Ihlen im vergangenen Sommer im Sterben lag, schrieb Cohen ihr einen Brief, den sie noch lesen konnte.

Weltliteratur Seine Worte an sie werden in die Annalen großer Liebesbriefe der Weltliteratur eingehen: »Wir sind alt. Unsere Körper verfallen, und ich weiß, ich werde dir bald folgen. Ich bin so nah bei dir, hinter dir. Wenn Du deine Hand ausstreckst, kannst du meine berühren. Ich habe dich immer für deine Schönheit und deine Weisheit geliebt, aber darüber muss ich nichts mehr sagen, denn du weißt es. Heute will ich dir nur eine sehr gute Reise wünschen. Goodbye old friend. Endless love, see you down the road.«

Zur Liebe gehört Vertrauen, und Cohen vertraute grenzenlos. Hin und wieder zu seinem eigenen Schaden. Ein Freund hatte ihm Mitte der 60er-Jahre einen Vertrag vorgelegt, den er nicht zu lesen bräuchte – und hatte ihm so die Rechte seines Klassikers »Suzanne« geraubt. »Ich vertraute einem Typen, nur weil er lange Haare und Stiefel trug.« Cohen trug es mit Fassung. Es sei gut so. Der Song sei viel zu schön, um damit auch noch Geld zu verdienen.

Viele Jahre später betrog ihn seine Managerin um sein gesamtes Vermögen. Als alter Mann ging Cohen daraufhin noch einmal auf mehrere große Welttourneen. Diese Auftritte wurden zur Legende. In der voll besetzten Berliner Waldbühne bejubelten ihn 22.000 Besucher, er fiel auf die Knie und dankte für das Vertrauen, das alle in ihn, den singenden Greis, bewiesen hätten.

erbe Was bleibt von einem großen Künstler, einer tief religiösen jüdischen Seele und einem Dichter, der den Augenblick als Chiffre der Ewigkeit besungen und gelebt hat? Spotify, YouTube, Instagram? Leonard Cohen in einer digitalen Hall of Fame? Ruhm für die Ewigkeit?

Seine Antwort ist die eines Cohen, eines Priesters: »Mir gefällt die Vorstellung, dass man ein Lied schreibt, das dann seines Weges geht und niemand mehr weiß, wer es geschrieben hat. Das Lied geht um die Welt und verändert sich. Dann hört man es 300 Jahre später wieder, wenn ein paar Frauen ihre Kleider am Ufer eines Flusses oder eines Sees waschen und eine von ihnen diese Melodie summt.«

Die Autorin ist ARD-Kulturkorrespondentin für Berlin beim Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB).

Frankfurt am Main

Bildungsstätte Anne Frank zeigt Chancen und Risiken von KI

Mit einem neuen Sammelband will sich die Institution gegen Diskriminierung im digitalen Raum stellen

von Greta Hüllmann  19.04.2024

Kunst

Akademie-Präsidentin gegen Antisemitismus-Klausel

»Wir haben ein gutes Grundgesetz, wir müssen uns nur daran halten«, sagt Jeanine Meerapfel

 19.04.2024

Jehuda Amichai

Poetische Stimme Israels

Vor 100 Jahren wurde der Dichter in Würzburg geboren

von Daniel Staffen-Quandt  19.04.2024

Antisemitismus

Zentralrat der Juden äußert sich zu Hallervordens Gaza-Video

Das Gaza-Gedicht des Schauspielers wurde in den vergangenen Tagen massiv kritisiert

 19.04.2024

Streaming

»Bros«: Zwei Trottel, eine Bar

Die erste rein hebräischsprachige und israelische Original-Produktion für Netflix ist angelaufen

von Ayala Goldmann  18.04.2024

Interview

»Deutschland ist eine neurotische Nation«

Bassam Tibi über verfehlte Migrationspolitik, Kritik an den Moscheeverbänden und Ansätze für islamische Aufklärung

von Christoph Schmidt  18.04.2024

Verschwörungstheorien

Nach viel kritisiertem Israel-Hass-Video: Jetzt spricht Dieter Hallervorden

Der Schauspieler weist die Kritik an seiner Veröffentlichung zurück

 18.04.2024

Venedig

Israelhasser demonstrieren bei Kunstbiennale

Die Demonstranten forderten einen Boykott israelischer Künstler

 18.04.2024

Klassik

Eine Liebeserklärung an die Mandoline

Der israelische Musiker Avi Avital verleiht Komponisten wie Bach oder Vivaldi einen unverwechselbaren neuen Touch

von Christine Schmitt  18.04.2024