Geschichte

»Hitlers erbittertster Gegner«

Herr Aust, Sie sind als Journalist zeitlebens dem aktuellen Geschehen auf der Spur gewesen. Man kennt Sie als langjährigen Chefredakteur des »Spiegel« und aktuellen Herausgeber der »Welt«. Was hat Sie bewogen, einer heute fast vergessenen historischen Persönlichkeit Ihr neues Buch zu widmen?
Mein Kollege Michael Kloft von »Spiegel TV«, mit dem ich viele Sendungen über die Nazizeit gemacht habe, schenkte mir zu meinem 60. Geburtstag vor zehn Jahren die Originalausgabe der 1936 im Schweizer Europa-Verlag erschienenen ersten Hitler-Biografie. Sie stammte von einem gewissen Konrad Heiden, dessen Name mir damals nichts sagte. Als ich das Buch irgendwann später einmal abends zur Hand nahm, legte ich es erst am frühen Morgen aus der Hand. Zu meiner Verblüffung stellte ich fest, dass der Autor der Biografie heute nahezu vergessen ist.

Wer genau war dieser Konrad Heiden?
Er war Journalist und hatte nur ein Thema: Adolf Hitler. Er begann im Münchner Büro der bürgerlich-liberalen Frankfurter Zeitung und schrieb bald täglich über das Chaos in München, aus dem Hitlers Bewegung von den Anfängen in Hinterzimmern zur Weltkriegs- und Mordmaschine wuchs. Heiden ging in die frühen Parteiveranstaltungen und berichtete genau und voller Sarkasmus über die Wirkungsweise der Auftritte Hitlers. Vieles stenografierte Heiden mit. Das gab seinen Reportagen etwas Authentisches.

Was war das Besondere an dem jüdischen Journalisten?
Darauf gibt er selbst rückblickend die treffende Antwort: »Ich habe Hitler in den Jahren seines Aufstiegs viele Dutzend Male aus nächster Nähe zugehört, ihn auch gelegentlich im privaten Zirkel aus geringer Entfernung beobachten können. Aber wenn dabei für mein damaliges Gefühl etwas Faszinierendes war, so war es das Publikum. Die Reden selbst: alles Unsinn, alles gelogen, und zwar dumm gelogen, alles so lächerlich, dass jeder, so meinte ich, das doch sofort einsehen müsse. Stattdessen saßen die Zuhörer wie gebannt, und manchem stand eine Seligkeit auf dem Gesicht geschrieben, die mit dem Inhalt der Rede nichts mehr zu tun hatte, sondern das tiefe Wohlbehagen einer durch und durch umgewühlten und geschüttelten Seele widerspiegelte. Mein jugendliches Urteil über Hitler hat das nicht erschüttert; wohl aber begann ich, bestürzt, etwas über Menschen zu lernen.« Dieser frühe Durchblick, dass nicht Hitler, sondern sein Publikum das Gefährliche ausmachte, hat mich interessiert. Und Heiden blieb Hitler auf den Fersen, bis die Gestapo ihm auf den Fersen war.

Wie ist die journalistische Obsession Heidens zu erklären, womit er »Hitlers erster Feind« wurde, wie Sie Ihr Buch genannt haben, das diese Woche erscheint?
Die Mutter des 1901 in München geborenen Konrad Heiden, Lina Deutschmann, stammte aus einer jüdischen Familie, die ihn sehr geprägt hat. Sein Vater Johannes Heiden war in jungen Jahren in die SPD eingetreten. Die Ehe zerbrach bald an den Mehrfachbelastungen der Eltern, die politisch aktiv waren und sich über die Gewerkschaft weiterbildeten. Seine Mutter erzog den Knaben dann allein, siedelte mit ihm nach Frankfurt um, wurde eine der frühen Feministinnen. Sie war dort eng mit der jüdischen Frauenrechtlerin und Sozialdemokratin Henriette Fürth befreundet. Als seine Mutter starb, war Konrad Heiden fünf Jahre alt. Er wuchs dann bei seinem Vater auf. Das war sein elterliches Umfeld: jüdisch, sozialdemokratisch, pazifistisch.

Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 war Heiden besonders gefährdet. Welche Rolle spielte es, dass er Jude war?
Die Nazis sahen in ihm in erster Linie den Journalisten, der sie mit seinen Artikeln ins Mark getroffen hatte. Dass er Jude war, kam in dieser ersten Hetzjagd der Nazis auf ihre politischen Gegner allenfalls verschärfend hinzu. Er war als sozialdemokratischer deutscher Patriot und überzeugter Europäer zu Hitlers erstem Feind geworden. Er war der Stachel im Fleisch der Nazis. Heiden hatte Zugang zu manchen Parteizirkeln, zu den nationalsozialistischen Politikern Gregor und Otto Strasser, und hatte auch aus dem Innenleben der NSDAP berichtet. Er enttarnte die verlogene Demagogie Hitlers, er war – wie sich die Ehefrau des späteren Hamburger Bürgermeisters Herbert Weichmann erinnerte – Hitlers Feind Nummer eins! Er hatte sein Publikum demaskiert, war damit zu Hitlers erbittertstem Gegner geworden und war natürlich auch noch Sozialdemokrat. Das alles genügte, um ihn 1933 immens zu gefährden.

Welches Schicksal erlitt er während der NS-Zeit?
Heiden ging sofort nach der Machtergreifung in das damals noch nicht »heim ins Reich« geholte Saargebiet, nahm an der Kampagne um die Volksabstimmung teil und musste nach deren verheerendem Ergebnis weiter fliehen. Er gelangte schließlich über Lissabon in die Vereinigten Staaten, wo seine Bücher über den Nationalsozialismus und Adolf Hitler große Erfolge hatten. Dort galt er bis zu seinem Tod 1966 in New York als führender Experte für das NS-Regime und dessen »Staatsfeind Nr. 1«. Und in der Tat ist es mehr als beachtlich, dass er weit im Voraus erkannt hat, wozu genau die Nazis imstande sind und dass sie alle Drohungen ernst meinen.

Weil er genauer als andere hinsah oder weil er die Nazis bloß beim Wort nahm?
Beides. Er besaß ein untrügliches Gefühl dafür, was sein Feind Hitler schon in Mein Kampf angekündigt hatte, und schrieb Jahre vor der »Endlösung« visionär, dass die Nazis die Juden durch »Druck auf den Knopf ins Gas schicken« würden. Konrad Heiden war kein Politiker und kein Historiker. Er war Journalist. Was von ihm bleibt: Er hat deutlicher als viele Geschichtswissenschaftler als unmittelbarer Zeitzeuge die von Hitler ausgehende mörderische Faszination erfasst und beschrieben. Deshalb ist meine Biografie auch ein Buch über den Journalisten, den ich oft selbst zu Wort kommen lasse, um das Unerklärliche am Aufstieg Hitlers, was Historiker immer nur benennen, irgendwie nachvollziehbar zu machen.

Mit dem früheren Spiegel-Chefredakteur und heutigen WELT-Herausgeber sprach Harald Loch.

Stefan Aust: »Hitlers erster Feind. Der Kampf des Konrad Heiden«. Rowohlt, Reinbek 2016, 384 S., 22,95 €

Kommentar

AfD in Talkshows: So jedenfalls nicht!

Die jüngsten Auftritte von AfD-Spitzenpolitikern in bekannten Talk-Formaten zeigen: Deutsche Medien haben im Umgang mit der Rechtsaußen-Partei noch viel zu lernen. Tiefpunkt war das Interview mit Maximilian Krah bei »Jung & Naiv«

von Joshua Schultheis  24.04.2024

Meinung

Der Fall Samir

Antisemitische Verschwörungen, Holocaust-Relativierung, Täter-Opfer-Umkehr: Der Schweizer Regisseur möchte öffentlich über seine wirren Thesen diskutieren. Doch bei Menschenhass hört der Dialog auf

von Philipp Peyman Engel  22.04.2024

Essay

Was der Satz »Nächstes Jahr in Jerusalem« bedeutet

Eine Erklärung von Alfred Bodenheimer

von Alfred Bodenheimer  22.04.2024

Sehen!

Moses als Netflix-Hit

Das »ins­pirierende« Dokudrama ist so übertrieben, dass es unabsichtlich lustig wird

von Sophie Albers Ben Chamo  22.04.2024

Immanuel Kant

Aufklärer mit Ressentiments

Obwohl sein Antisemitismus bekannt war, hat in der jüdischen Religionsphilosophie der Moderne kein Autor mehr Wirkung entfaltet

von Christoph Schulte  21.04.2024

TV

Bärbel Schäfer moderiert neuen »Notruf«

Die Autorin hofft, dass die Sendung auch den »echten Helden ein wenig Respekt« verschaffen kann

von Jonas-Erik Schmidt  21.04.2024

KZ-Gedenkstätten-Besuche

Pflicht oder Freiwilligkeit?

Die Zeitung »Welt« hat gefragt, wie man Jugendliche an die Thematik heranführen sollte

 21.04.2024

Memoir

Überlebenskampf und Neuanfang

Von Berlin über Sibirien, Teheran und Tel Aviv nach England: Der Journalist Daniel Finkelstein erzählt die Geschichte seiner Familie

von Alexander Kluy  21.04.2024

Glosse

Der Rest der Welt

Nur nicht selbst beteiligen oder Tipps für den Mietwagen in Israel

von Ayala Goldmann  20.04.2024