Autorität

Sprachrohr G’ttes

Die Rabbiner nehmen im Judentum eine interessante Position ein: Als eine Art Sprachrohr G’ttes lehren sie die Religion und legen fest, wie das Religionsgesetz auszuüben ist. Foto: Thinkstock

Sagt ein Chassid vorwurfsvoll zu einem Gegner seines Rabbis: »Wie kannst du es wagen, dich über unseren heiligen Rabbi lustig zu machen, spricht doch G’tt selbst mit ihm!« Der Gegner, skeptisch: »Woher weißt du das?« – »Der Rabbi hat es mir erzählt!« – »Vielleicht hat er ja gelogen ...« Darauf der Chassid entrüstet: »Wird denn G’tt mit einem Lügner reden?«

Die Rabbiner nehmen im Judentum eine interessante Position ein. Sie können als eine Art Sprachrohr G’ttes verstanden werden: Sie lehren die Religion und legen fest, wie das Religionsgesetz auszuüben ist. Doch es stellt sich die Frage: Woher nehmen sie das Recht dazu? Wie können Menschen für sich beanspruchen, G’ttes Worte zu interpretieren? Wer hat sie dazu autorisiert?

Rechtsspruch Unser Wochenabschnitt geht auf diese Fragen ein: »Wenn dir eine Sache unbekannt ist (…), so komme zu den Priestern und den Leviten oder zu dem Richter, der in jenen Tagen sein wird, und frage nach. Und sie werden dir den Ausspruch des Rechts verkünden. (…) Gemäß der Weisung, die sie dich lehren, und nach dem Rechtsspruch, den sie dir sagen, sollst du handeln. Weiche weder nach rechts noch links von dem Ausspruch, den sie dir kundtun!« (5. Buch Mose 17, 8–11).

Der Rambam, Maimonides (1135–1204), leitet aus diesen Versen die Gültigkeit der Worte der Weisen ab: »Wer nicht nach ihrer Lehre handelt, übertritt ein Verbot (der Tora), wie geschrieben steht: ›Weiche nicht …‹ (Dies bezieht sich) sowohl (auf) Dinge, die sie von der Überlieferung lernten als auch (auf) Dinge, die sie aus eigener Erkenntnis mit den Mitteln, mit denen in der Tora geforscht wird, lernten und in ihren Augen richtig erscheinen, als auch (auf) Dinge, die sie als Beschränkung für die Tora einrichteten. Jede dieser drei Gruppen ist mit dem Gebot belegt, auf sie zu hören« (Hilchot Mamrim 1,2).

Laut dem Rambam bedeutet dies, dass die Worte der Weisen äußerst starke Gültigkeit besitzen, denn wer sie missachtet, übertritt zugleich ein Gebot und ein Verbot der Tora. Der Rambam definiert an anderen Stellen, dass es keine Kraft außerhalb der Tora gibt, die der Festlegung des Religionsgesetzes Gültigkeit verleiht. Dies bedeutet, dass die Weisen ihre Autorität nur von der Tora ableiten können und ihre Worte folglich auf derselben Stufe der Gültigkeit stehen wie jene der Tora.

Andeutung
Gegen Rambams Meinung spricht sich der Ramban, Nachmanides (1194–1270), aus: Würden die Worte der Weisen auf ein und derselben Stufe wie die Worte der Tora stehen, dann gäbe es nicht so viele Talmudstellen und Regeln, die zwischen diesen beiden Ebenen in vielerlei Hinsicht Unterscheidungen vornehmen. In den oben zitierten Sätzen sieht Nachmanides eine reine Andeutung für die Worte der Weisen, nicht aber den Ursprung ihrer rechtlichen Gültigkeit.

Woher aber leitet der Ramban die Autorität der Weisen ab, wenn nicht von der Tora selbst? Als Grundlage dafür sieht er den Vers: »Frage deinen Vater, und er wird dir verkünden, deine Alten, und sie werden dir sagen« (5. Buch Mose 32,7).

Einen ähnlichen Weg geht Rabbiner Elchanan Wasserman (1874–1941) mit seiner Erklärung (Kuntres diwrej hasofrim 1,23). Er interpretiert folgende Aussage Jirmijahus: »Und sie bauten die Höhen des Ba’al, um dort ihre Söhne als Ganzopfer für Ba’al zu verbrennen, was Ich (G’tt) nicht befohlen und nicht geheißen habe und Mir nicht in den Sinn gekommen ist« (19,5).

Wasserman erklärt: »Was Ich nicht befohlen« – dies sind die Weisungen der Tora. »Und nicht geheißen habe« – damit sind die durch Propheten überbrachten Worte gemeint. »Und Mir nicht in den Sinn gekommen ist« – dies ist der Wille G’ttes, der weder in den Weisungen der Tora noch in den prophetischen Worten ausdrücklich wiedergegeben wird. Die Weisen beziehen ihre Autorität nicht direkt von der Tora, ihre Worte haben auch nicht dieselbe Gültigkeit, und dennoch genießen sie hohe Autorität, denn ihre Lehren, ihre Einrichtungen und Bräuche entsprechen dem Willen G’ttes.

Schwur Eine andere Erklärung des Ramban bezieht sich auf einen Schwur, den Mosche die Kinder Israel leisten ließ: »Und nicht nur mit euch schließe ich diesen Bund und diesen Schwur« (5. Buch Mose 29,13). Wiederum sind wir nicht direkt durch die Weisung der Tora verpflichtet, die Lehren der Gelehrten zu akzeptieren, stattdessen jedoch durch den Schwur, der in der Tora verankert ist.

Rabbi Jehuda Halevi (1075–1141) stimmt grundsätzlich mit dem Standpunkt des Rambam überein, fügt ihm aber weitere Punkte hinzu: Über die Weisung der Tora hinaus stützen sich die rabbinischen Worte auch auf den himmlischen Einfluss, Prophetie oder Ruach hakodesch (himmlische Eingebung). Dieser Einfluss existierte vorwiegend zur Zeit der Tempel. Es war auch zu jener Zeit, dass die Weisen die zusätzlichen rabbinischen Gebote einrichteten.

Nach Rabbi Jehuda Halevi veranlasst und verpflichtet uns eine weitere Überlegung, auf die Weisen zu hören: die Bewahrung der Einheit der Tora. Denn es steht geschrieben: »Eine Lehre und ein Recht soll euch sein« (4. Buch Mose 15,16).

überlieferung Wenn jeder die Tora auf eigene Faust interpretieren würde, wäre bald nicht mehr vom Judentum zu sprechen. Die Meinung der Weisen zentralisiert und vereinheitlicht das Verständnis der Tora und die Interpretation ihrer Sätze und somit auch das Judentum. Außerdem beruht sie auf der direkten Überlieferung von Mosche, der die Tora mitsamt Erklärung, der mündlichen Lehre, direkt von ihrem g’ttlichen Ursprung empfing (Sprüche der Väter 1,1).

Wir sollen nicht nur den Worten der Gelehrten Folge leisten, sondern ihnen selbst als Träger der Weisheit der Tora auch Respekt erweisen. Dies wird von Rabbi Mosche Chaim Luzzato (1707–1746) in seinem Weg der Frommen wie folgt beschrieben: »Es steht geschrieben: ›Vor dem Greisenalter sollst du aufstehen und das Angesicht eines Alten preisen‹ (3. Buch Mose 19,32). Daraus lernen wir, dass jedwede Art von Ehre, die man ihnen (den Weisen) erweisen kann, getan werden soll. So erklärt der Talmud: ›Und jene, die G’tt fürchten, ehrt er‹ (Ketubot 103b). Dies bezieht sich auf Jehoschafat, den König von Jehuda, der, wenn er einen Gelehrten sah, aufstand, ihn umarmte und küsste und ihm sagte: ›Mein Lehrer, mein Lehrer; mein Meister, mein Meister!‹.«

Da das gesamte jüdische Volk als »Kinder von Königen« gilt (Talmud, Baba Mezia 113b), darf ihm auch gelten, die Gelehrten, Träger der Tradition seit Mosche Rabbenu, anzuerkennen. Denn was dem König (Jehoschafat) beliebt, kann den Kindern der Könige nur recht sein.

Der Autor war Rabbiner der Synagogen-Gemeinde Köln. Seit März 2015 amtiert er in Karmiel/Israel.

Inhalt
Im Wochenabschnitt Schoftim geht es um Rechtsprechung und Politik. Dabei steht zunächst die Regierung im Vordergrund. Es werden Gesetze über die Verwaltung der Gemeinschaft mitgeteilt sowie Verordnungen für Richter, Könige, Priester und Propheten. Die Tora betont, dass die Kinder Israels in jeder Angelegenheit nach Gerechtigkeit streben sollen. Bevor mit Verordnungen zum Verhalten in Kriegs- und Friedenszeiten geschlossen wird, weist die Tora darauf hin, dass ein Israelit, der einen anderen ohne Absicht totgeschlagen hat, sich in einer von drei Zufluchtsstädten vor Blutrache retten kann.
5. Buch Mose 16,18 – 21,9

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