Elul

Barmherzigkeit und Bußgebete

Im letzten Monat des jüdischen Jahres ziehen wir Bilanz und bereiten uns auf die Hohen Feiertage vor

von Rabbiner Avichai Apel  29.08.2016 18:35 Uhr

Eine Frau spricht Selichotgebete an der Westmauer in Jerusalem. Foto: Flash 90

Im letzten Monat des jüdischen Jahres ziehen wir Bilanz und bereiten uns auf die Hohen Feiertage vor

von Rabbiner Avichai Apel  29.08.2016 18:35 Uhr

Der letzte Monat des Jahres im jüdischen Kalender ist der Monat Elul, der an diesem Sonntag (dem 4. September) beginnt – ein Monat ohne Feiertage, ein Monat ohne Fasten. Es ist ein Monat, der das vergangene Jahr abschließt, und in dem wir uns auf bestimmte Art und Weise bereits mit dem kommenden Jahr beschäftigen. Es ist auch der Monat, in dem wir uns auf die Feste des Monats Tischri vorbereiten – Rosch Haschana, Jom Kippur und Sukkot. Worin aber besteht die wirkliche Bedeutung des Monats Elul?

Im Volksmund wird der Elul der Monat der Selichot (der Bußgebete) und der Barmherzigkeit genannt. Der tiefere Sinn des Monats Elul hängt mit diesen Begriffen zusammen: Nachdem das Volk Israel in der Wüste mit seiner Verehrung des Goldenen Kalbs gesündigt und Mosche die Gesetzestafeln zerbrochen hatte (beides geschah am 17. Tamus, dem Datum, an dem später die Jerusalemer Stadtmauer durchbrochen wurde und ein Krieg begann, der zur Zerstörung des Zweiten Tempels führte), steigt Mosche an Rosch Chodesch Elul, am ersten Tag des Monats Elul, auf den Berg Sinai, um die kommenden 40 Tage und Nächte die Gebote der Tora von Neuem zu studieren und wieder die Tafeln des Bundes vorzubereiten.

Jom Kippur Im Lauf dieser 40 Tage unternimmt er jegliche Anstrengung, um den Allmächtigen zufriedenzustellen und die Sünde des Volkes wiedergutzumachen. Nach 40 Tagen steigt Mosche wieder vom Berg herunter, in seiner Hand zwei Gesetzestafeln, auf ihnen die Zehn Gebote. Und am selben Tag teilt der Allmächtige dem Volk Israel mit, dass ihm verziehen wird. Dieser vierzigste Tag nach Rosch Chodesch Elul ist Jom Kippur – der Tag des Gerichts, der Tag, an dem die Sünden Israels verziehen und vergeben werden.

Diese Gelegenheit, die dem Menschen eingeräumt wird, um sein Leben zu ändern und bessere Taten zu begehen, ist außergewöhnlich. Der Jerusalemer Talmud beschreibt, was der menschliche Verstand und die Tora zu der Frage sagen, wie ein Mensch, der gesündigt hat, umkehren kann: »Rabbi Pinchas sagte: Was ist laut dem Verstand die angemessene Strafe für einen Sünder? Die Antwort lautet: ›Chataim tirdof raa‹ (Unheil verfolgt die Sünder, Sprüche der Väter 13,21). Was ist laut der Prophezeiung die angemessene Strafe? Die Antwort lautet: ›Die Seele, die gesündigt hat, wird sterben.‹«

Der menschliche Verstand und die Tora kennen also keinen Weg zur Umkehr. Ein Mensch, der gesündigt hat, muss bestraft werden. Doch die Gemara fragt weiter: »Was sagt der Allmächtige über die angemessene Strafe für einen Sünder? Er sagt: ›Wenn er umkehrt, wird ihm verziehen‹ (Jerusalemer Talmud Makkot 2,6).« So steht geschrieben: »Er öffnet ihnen den Weg aus der Sünde«, das heißt, er weist ihnen den Weg zur Umkehr.

Das bedeutet: Der Allmächtige wendet andere Regeln an. Der Allmächtige ist bereit, die Möglichkeit zu akzeptieren, dass ein Mensch, der gesündigt hat, den Weg der Umkehr einschlagen kann, falls er seine bösen Taten bereut, sich dazu verpflichtet, fortan nicht mehr zu sündigen, und seine Sünden auch bekennt. Und wenn dieser Mensch den Weg der Umkehr eingeschlagen hat, dann werden seine Sünden getilgt – so, als hätte er sie niemals begangen.

Schofar Am ersten Tag des Monats Elul beginnen wir damit, jeden Morgen bis zum Ende des Monats das Schofar zu blasen. Das ist keine technische Übung, damit das Schofar an Rosch Haschana gut klingt. Es geht um etwas Tieferes. Der Prophet Amos schreibt: »Bläst man etwa das Schofar in einer Stadt, und das Volk entsetzt sich nicht?« (Amos 3,6). Die Stimme des Schofars hat eine besondere Kraft. Sie ist ein Weckruf an uns in den Tagen vor Rosch Haschana und Jom Kippur. Jeden Tag im Monat Elul hören wir den Klang des Schofars, das uns dazu aufruft, über unsere Taten zu reflektieren und uns auf das neue Jahr und auf den Tag des Gerichts vorzubereiten.

Die Stimme des Schofars erinnert uns an die jüdische Geschichte, besonders an die Akeda, die Bindung Jizchaks und an den Widder, dessen Horn sich im Baum verfing, der von unserem Urvater Awraham gerettet wurde und als Opfer anstelle seines Sohnes Jizchak dargebracht wurde.

Erlösung Sie erinnert uns an die Stimmen des Schofars, die wir hörten, als uns die Tora gegeben wurde. Sie erinnert uns auch an das Versprechen des Allmächtigen, dass er auf einem großen Schofar blasen, das gesamte Volk Israel in Eretz Israel versammeln und uns die Erlösung bringen wird.

Wenn ein Mensch den Klang des Schofars hört, sich einerseits konkret an diese Ereignisse der Geschichte erinnert und sich andererseits bewusst macht, dass der Allmächtige einen Weg bereithält, uns selbst und die Realität zu ändern, dann beeinflusst dieser Klang den Menschen ganz direkt und bringt ihn dazu, bessere Taten zu tun und damit die Welt zu einem besseren Ort zu machen, bis Frieden und Erlösung kommen.

Wer seinen Platz im Leben und in der Welt begreift, der hat schon den größten Teil des Wegs zurückgelegt, um sein Ziel im Leben zu erreichen. Im Monat Elul sucht jeder Mensch seinen persönlichen Weg. Die Abkürzung der Buchstaben Elul steht für »Ani le-Dodi ve-Dodi li« – ich gehöre meinem Liebsten, und umgekehrt. Die erste Regel im Leben eines jeden Juden ist die Hingabe an den Dienst an G’tt. Unsere Verbindung zu G’tt ist keine Fernverbindung. Es ist eine enge Beziehung. Für uns ist er unser Dod, unser Geliebter – ähnlich wie es auch zum Ausdruck kommt, wenn wir wie jeden Schabbat »Lecha Dodi« singen, um die Königin Schabbat zu empfangen.

Hingabe Wir sind G’tt sehr nahe, aber wir müssen uns ihm noch mehr hingeben und den Weg zum Glauben an G’tt finden, die Gebote noch stärker beachten: »Und du sollst den Herrn, deinen G’tt, mit deinem ganzen Herzen und deiner ganzen Seele und deinem ganzen Gemüt lieben.« Wir müssen nachsehen und ständig überprüfen, ob der Weg, für den wir uns im Leben entschieden haben, auch der Weg ist, der zu einer echten Verbindung zwischen uns und G’tt führt – ein Weg des echten Vertrauens zwischen uns und dem Schöpfer, gelobt sei Er.

Weitere Anspielungen, die wir im Wort Elul finden, sind: »Jeder für seinen Mitmenschen« und »Geschenke für die Armen«. Wir leben ja nicht nur als gläubige Menschen. Wir stehen zwischen den Menschen und dem Bestreben des Allmächtigen, dass wir einen positiven Weg der Verbindung untereinander finden. Wir sollen lernen, uns zu freuen und uns aneinander erfreuen, uns gegenseitig in Zeiten der Not zu helfen – um eine bessere Welt aufzubauen, eine Gesellschaft, in der man sich gegenseitig hilft.

Im Monat Elul müssen wir darauf noch mehr achten als sonst. Einerseits müssen wir zurückschauen und überprüfen, was wir in unseren Beziehungen mit unseren Mitmenschen verbessern sollten. Andererseits müssen wir nach vorne schauen und uns dazu verpflichten, unsere Beziehungen mit der Umgebung zu verbessern.

»Jeder für seinen Mitmenschen« – das gilt ganz gleich, ob arm oder reich, alt oder jung. Und Geschenke an die Armen bedeutet, die Beziehungen zwischen den Schwachen, die arm an Wissen, körperlich schwach, behindert oder mittellos sind, und den Starken in der Gesellschaft, die in dieser Hinsicht viel besser dran sind, zu optimieren.

König In unseren Tagen hat der Monat Elul auch noch eine weitere symbolische Bedeutung. Während der König den Rest des Jahres über in seinem Schloss sitzt und auf diejenigen schaut, die zu ihm kommen, zieht er im Monat Elul hinaus aufs Feld und zeigt sich dem Volk, nähert sich ihm und macht es ihm dadurch möglich, noch näherzukommen.

Die Wächter des Schlosses und die Beamten erschweren die Begegnung mit dem König nicht. Jeder Bürger kann kommen und jederzeit mit ihm sprechen. Ein Prophet schrieb über den Monat Elul: Der König im Feld ist uns sehr nahe, und wir sollen ihm näherkommen, als wir es jemals waren, in der Hoffnung, dass diese Nähe nicht zeitlich begrenzt, sondern ewig sein wird.

In der jüdischen »Tenuat Ha-mussar«, der Ethikbewegung, dagegen wurde die Angst des Menschen vor dem Tag des Gerichts im Monat Elul hervorgehoben. Im Wissen, dass dieser Tag naht, soll der Mensch an seinem Charakter arbeiten und umkehren. Das ging so weit, dass man sagte: Im Monat Elul fürchten sich sogar die Fische vor den Hohen Feiertagen.

Jeder Mensch hat seine Art und Weise, sich erwecken zu lassen, umzukehren und zu G’tt und seinem Volk Israel zurückzukehren. Mögen wir alle in den Genuss eines Monats der Barmherzigkeit und der Bußgebete kommen, und möge dieser Monat einen guten Einfluss auf die ganze Welt haben.

Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Frankfurt am Main.

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