Finale

Der Rest der Welt

An Russisch habe ich mich allmählich schon gewöhnt. Ich wohne schließlich in Berlin-Charlottenburg, auch als »Charlottengrad« bekannt. Russisch ist hier nach Deutsch die zweite Verkehrssprache, von den Hermès- und Cartier-Flagshipstores auf dem Ku’damm bis zum koscheren Imbiss »Orient« in der Wilmersdorfer Straße, wo nahöstliche Spezialitäten wie Falafel und Schakschuka mit slawischer Intonation serviert werden.

Doch mittlerweile wird die Sprache Tolstois und Dostojewskis zunehmend durch ein anderes Idiom verdrängt. In meinem Stammcafé hört man inzwischen fast so viel Hebräisch wie auf der Sheinkinstraße in Tel Aviv. Erst Sonntag saß am Nebentisch wieder eine Gruppe von Israelis, die – natürlich lautstark – Iwrit redeten.

»Schawua tow« Trotz des eigenen Geräuschpegels bekamen sie offenbar mit, dass ich am Telefon einer Freundin »Schawua tow« wünschte. Sie unterbrachen ihre Unterhaltung, schauten mich erstaunt an (vielleicht auch amüsiert wegen meines grausigen Akzents) und setzten danach die Konversation in deutlich gedämpftem Ton fort. Sie hatten die erste Regel der Berliner Multikulturalität begriffen: Egal in welcher Sprache du dich unterhältst, in Hörweite gibt es immer jemanden, der verstehen könnte, was du sagst.

Ich selbst weiß das spätestens, seit mir und einer Bekannten vor einigen Jahren einmal auf der Straße ein sichtlich russisches Paar entgegenkam, sie mit toupierten wasserstoffblonden Haaren, hohen weißen Lackstiefeln und, trotz nicht mehr jugendlichen Alters und deutlichem Übergewicht, Minirock und körperbetontem Top. Meine Begleiterin kommentierte halblaut: »Sieht aus wie eine Nafke.« Worauf der Mann – breite Schultern, Lederjacke, dicke Goldkette mit großem Chai – sich wütend umdrehte und Anstalten machte, auf uns zuzugehen, eindeutig nicht in freundlicher Absicht. Überraschung: Russische Juden kennen das jiddische Wort für »Hure«. Wir sahen zu, dass wir das Weite suchten.

Taxi Ein Tipp noch für Israelis: Wenn es einen Ort gibt, wo Sie tunlichst nicht Hebräisch sprechen sollten, dann ist es in Berliner Taxis. Viele der Fahrer sind nämlich Palästinenser, die sich über diese Art von heimatlichen Klängen überhaupt nicht freuen. Bekannte von mir unterhielten sich kürzlich auf der Fahrt vom Flughafen in die Stadt auf Iwrit, bis ihnen auffiel, dass der Fahrer sie im Rückspiegel finster anstarrte. Erst dann bemerkten sie die Plakette mit dem Felsendom am Armaturenbrett mit der arabischen Inschrift »Al-Quds bleibt unser«. Der Rest der Tour verlief schweigend auf beiden Seiten.

Das Trinkgeld nahm der Fahrer trotzdem an, ohne allerdings »Danke« zu sagen. Auch nicht »Toda raba«. Nicht einmal »Schukran« kam über seine Lippen. Immerhin: »Yahudi kelb« hat er sich verkniffen. Dass das »Judenhunde« heißt, wissen Israelis schließlich.

Kommentar

AfD in Talkshows: So jedenfalls nicht!

Die jüngsten Auftritte von AfD-Spitzenpolitikern in bekannten Talk-Formaten zeigen: Deutsche Medien haben im Umgang mit der Rechtsaußen-Partei noch viel zu lernen. Tiefpunkt war das Interview mit Maximilian Krah bei »Jung & Naiv«

von Joshua Schultheis  24.04.2024

Meinung

Der Fall Samir

Antisemitische Verschwörungen, Holocaust-Relativierung, Täter-Opfer-Umkehr: Der Schweizer Regisseur möchte öffentlich über seine wirren Thesen diskutieren. Doch bei Menschenhass hört der Dialog auf

von Philipp Peyman Engel  22.04.2024

Essay

Was der Satz »Nächstes Jahr in Jerusalem« bedeutet

Eine Erklärung von Alfred Bodenheimer

von Alfred Bodenheimer  22.04.2024

Sehen!

Moses als Netflix-Hit

Das »ins­pirierende« Dokudrama ist so übertrieben, dass es unabsichtlich lustig wird

von Sophie Albers Ben Chamo  22.04.2024

Immanuel Kant

Aufklärer mit Ressentiments

Obwohl sein Antisemitismus bekannt war, hat in der jüdischen Religionsphilosophie der Moderne kein Autor mehr Wirkung entfaltet

von Christoph Schulte  21.04.2024

TV

Bärbel Schäfer moderiert neuen »Notruf«

Die Autorin hofft, dass die Sendung auch den »echten Helden ein wenig Respekt« verschaffen kann

von Jonas-Erik Schmidt  21.04.2024

KZ-Gedenkstätten-Besuche

Pflicht oder Freiwilligkeit?

Die Zeitung »Welt« hat gefragt, wie man Jugendliche an die Thematik heranführen sollte

 21.04.2024

Memoir

Überlebenskampf und Neuanfang

Von Berlin über Sibirien, Teheran und Tel Aviv nach England: Der Journalist Daniel Finkelstein erzählt die Geschichte seiner Familie

von Alexander Kluy  21.04.2024

Glosse

Der Rest der Welt

Nur nicht selbst beteiligen oder Tipps für den Mietwagen in Israel

von Ayala Goldmann  20.04.2024