70 Jahre Jüdische Allgemeine

»Pflichtlektüre mit Genuss«

Zentralratspräsident Josef Schuster über Schlagzeilen, jüdisches Selbstverständnis und »Lügenpresse«

von Detlef David Kauschke, Heide Sobotka  28.06.2016 19:11 Uhr

»Die Headline meiner Wahl wäre: ›Jüdische Gemeinschaft in Deutschland wächst‹«: Zentralratspräsident Josef Schuster Foto: Marco Limberg

Zentralratspräsident Josef Schuster über Schlagzeilen, jüdisches Selbstverständnis und »Lügenpresse«

von Detlef David Kauschke, Heide Sobotka  28.06.2016 19:11 Uhr

Herr Schuster, 70 Jahre Jüdische Allgemeine: Ist das mehr als ein Zeitungsjubiläum, wie es jetzt auch viele andere Blätter in der Bundesrepublik begehen?
Ja, es ist ein ganz besonderes Jubiläum. Denn wenn man an die erste Ausgabe der Zeitung zurückdenkt, stellte sich den Herausgebern vor 70 Jahren bestimmt die Frage, wie lange es sinnvoll und notwendig ist, in Deutschland eine Zeitung mit jüdischen Inhalten und für eine jüdische Leserschaft erscheinen zu lassen. Damals wurde die jüdische Präsenz ja doch eher nur noch als Provisorium betrachtet, Deutschland war für viele Juden nicht mehr als eine Durchgangsstation. Auch im Ausland war der Gedanke eines Wiederaufbaus jüdischer Gemeinden hierzulande sehr umstritten. Ich denke, die Zeitung war eher als Medium gedacht, den hier gewollt oder ungewollt lebenden Menschen entsprechende Informationen zukommen zu lassen. Und das Ganze – wie viele Provisorien im Leben – hat sich fest etabliert. Aus dem Provisorium ist eine Einrichtung geworden, die sich auch in ihrer Struktur im positiven Sinne stark gewandelt hat.

Inwiefern?
Wenn ich an die Zeit vor 20, 25 Jahren zurückdenke, als die Zuwanderung begann und wir noch die Struktur der »alten Gemeinden« hatten, da war die Zeitung ein gemeindliches Mitteilungsblatt. Ganz wichtig waren darin die Nachrichten über eine Bar- oder Batmizwa oder eine Hochzeit. Dann kam der Umbruch, vieles veränderte sich, die Gemeinden wuchsen, und es wurde nicht mehr über jede einzelne Familien-Simches berichtet, andere Meldungen wurden wichtiger. Die Entwicklung ging hin bis zur Dreiteilung des Blattes – in einen politischen Teil, einen Gemeindeteil und einen Teil mit Kultur und Kultus. Und inzwischen hat sich die Jüdische Allgemeine zu einem Medium in Print und Online gewandelt, das sich sehen lassen und im Wettbewerb mit anderen Zeitungen mithalten kann. Ich halte sie für das führende jüdische Medium in Deutschland.

Seit wann lesen Sie die Jüdische Allgemeine?
Das kann ich gar nicht genau sagen. Denn die Jüdische Allgemeine lag so selbstverständlich jede Woche – oder, als sie 14-tägig erschien, alle zwei Wochen – in meinem Elternhaus, dass ich keinen Zeitpunkt benennen kann, wann ich sie das erste Mal zur Kenntnis genommen habe. Wir hatten zu Hause immer eine Tageszeitung, bei uns in Würzburg die Main-Post, und dann die Jüdische Allgemeine. Ich bin mit ihr aufgewachsen.

Nehmen Sie die Jüdische Allgemeine jetzt in der Funktion des Zentralratspräsidenten anders wahr?
Als Präsident schaue ich doch manchmal genauer hin, inwieweit Meinungen wiedergegeben werden, die der Zentralrat als Institution vertritt. Und selbstverständlich lese ich das auch aufmerksam, was die Zeitung in Kommentaren oder Meinungsartikeln an Kritik äußert.

Wie lesen Sie das Blatt?
Ich fange wirklich ganz vorne an, mit der Seite eins. Donnerstagabend, wenn ich nach Hause komme, blättere ich erst einmal den ersten Teil durch. Das zweite Buch, also den Lokalteil, schaue ich später noch intensiver an. Und am Wochenende lese ich dann auch den dritten Teil der Zeitung.

Das klingt nach intensiver Lektüre.
Wenn derjenige, der die Jüdische Allgemeine mit zu verantworten hat, sie nicht lesen würde, wäre das wohl nicht optimal. In kleinem Maße ist es eine Pflichtlektüre, ganz überwiegend lese ich die Zeitung aber mit Interesse und Genuss.

Vor der Schoa gab es die unterschiedlichsten jüdischen Zeitungen für unterschiedlichste politische und religiöse Strömungen. Heute versucht die Jüdische Allgemeine, dies alles in einem Blatt darzustellen. Ist das dem Selbstverständnis des Zentralrats entsprechend, die Vertretung aller Juden in Deutschland zu sein?

Der Zentralrat sieht sich als Vertretung aller Juden in Deutschland, eben auch als Dach für die verschiedenen religiösen Strömungen. So ist auch die Zeitung, die der Zentralrat herausgibt, zu verstehen.

Schafft die Zeitung diesen Spagat?

Sehr gut sogar. Ich meine, dass die Zeitung die Themen aus liberaler und orthodoxer, oder besser gesagt: traditioneller Perspektive widerspiegelt und auch bei der Auswahl der rabbinischen Gastautoren eine Ausgewogenheit hat.

Die Geschichte der Zeitung ist auch die eines gewandelten Selbstbewusstseins der Juden in Deutschland. Sie erzählten einmal, dass Sie sehr bewusst in diesem Land aufgewachsen sind und »das nicht Normale daran« erst später erkannt haben. Wie sehen Sie das aus heutiger Sicht?

Meine Großeltern mütterlicherseits sind in Auschwitz ermordet worden, mein Vater war in Dachau und Buchenwald. Meine Mutter und mein Vater flohen schließlich jeweils nach Palästina und entschlossen sich später, wieder nach Deutschland zurückzukehren. Die Geschichte wurde bei uns nicht verdrängt, aber ich wusste stets, dass es eine bewusste Entscheidung war, in Deutschland zu leben. Noch in den 70er-Jahren war ein solcher Schritt hierzulande fragwürdig, im Ausland stieß das in jüdischen Kreisen mehrheitlich noch auf Unverständnis. Dann kam mit dem damaligen Zentralratsvorsitzenden Werner Nachmann der große Wandel des Selbstverständnisses. Er war meiner Erinnerung nach der Erste, der sich klar zu einem Leben als Jude in Deutschland bekannt hat.

Wie betrachten Sie aus dieser Perspektive die erneute Diskussion über die Zukunft jüdischen Lebens in Europa?
Ich sehe keinen Zusammenhang mit den 70er-Jahren, wir haben heute eine ganz andere Situation. Der Antisemitismus, vor dem zum Beispiel viele französische Juden fliehen, ist ein Judenhass aus Kreisen, an die man damals noch gar nicht gedacht hat. Ich kann solche Gedanken wie die der französischen Juden nachvollziehen. Im Januar vergangenen Jahres, nach den Pariser Anschlägen, habe ich gesagt, dass ich mir solche Szenarien für Deutschland nicht vorstellen kann. Das Gleiche würde ich heute so nicht mehr äußern. Ich kann mir schon vorstellen, dass auch in Deutschland angesichts der aktuellen politischen Entwicklung und eines zusätzlichen Antisemitismus aus arabisch-muslimischen Kreisen der eine oder andere solche Überlegungen anstellt.

Was sind Ihrer Meinung nach derzeit die Themen, die die jüdische Gemeinschaft in Deutschland am meisten bewegen?
Der Rechtsruck, den wir in zahlreichen Ländern sehen – in Österreich, Frankreich, Holland und auch bei uns –, ist etwas, was uns mit Sorge erfüllt. BDS, also der Israel-Boykott, ist ein anderes Thema, das dem Zentralrat Sorge bereitet. Im positiven Sinne stellen die vielen Israelis, die inzwischen in Deutschland leben, eine Herausforderung für uns dar. Die Frage ist, warum sie noch nicht den Weg in die jüdischen Gemeinden gefunden haben. In diesem Zusammenhang besteht für uns die Aufgabe, junge jüdische Menschen mehr in die Gemeinden einzubinden. Warum sollte es nicht möglich sein, sie in Berlin oder anderen Universitätsstädten mit ihren eigenen Wünschen, Bedürfnissen und Fragen an die Gemeinden heranzuführen?

Aber ist es nicht überall ein Phänomen, dass sich junge Menschen nicht dauerhaft binden wollen, auch nicht an Gemeinden?
Das lässt sich ganz objektiv so bestätigen. Ich kann auch aus meiner eigenen Biografie berichten, dass es als Schüler und auch noch als Student ein Interesse an der jüdischen Gemeinde gibt. Aber in dem Moment, in dem das Berufsleben beginnt und erst einmal die Phase der Familiengründung stattfindet, rückt das Thema Religion und Gemeinde weit nach hinten. Das finden wir nicht nur in jüdischen Gemeinden, auch die Kirchen haben entsprechende Probleme. Wir erreichen die Menschen erst dann wieder, wenn sie Kinder im Kindergartenalter haben, dann finden sie so langsam zurück. In der Phase dazwischen ist es sehr schwierig, junge Menschen für Religion und Gemeinden zu begeistern.

Spielt das kostenlose Online-Angebot und die Präsenz der Jüdischen Allgemeinen in den sozialen Medien dabei eine Rolle?

Ja, ich denke schon, dass die Zeitung hier eine besondere Aufgabe hat. Vielleicht sollte man in der Jüdischen Allgemeinen auch noch mehr Themen ansprechen, die gerade junge Erwachsene im Alter von 25 bis 40 Jahren interessieren.

Nutzen Sie das Online-Angebot der Zeitung regelmäßig?
Ehrlich gesagt: Wenn ich eine Zeitung lese, will ich auch Papier in der Hand haben. Aber selbstverständlich nutze ich auch das Internet, auf Tablet oder Smartphone lese ich die Zeitung aber eher, wenn ich dringend einen Artikel suche und lesen will.

Wie betrachten Sie die Tatsache, dass die mediale Geschwindigkeit zugenommen hat, sofort Reaktionen auf bestimmte Ereignisse erwartet werden, der Diskurs im Internet auch härter geworden ist?

Das ist nicht nur ein in den Medien zu beobachtendes Phänomen. Wenn Sie früher einen Brief geschrieben haben, hat das schon mehr Zeit und Aufwand bedeutet. Heute schreibt man schnell mal etwas, versendet es ruck, zuck als Mail, es ist erheblich weniger Aufwand. Und man fasst sich meist auch kürzer, ist dadurch vielleicht pointierter. Aber bei dieser Geschwindigkeit kann auch schon mal etwas danebengehen, eine Aussage schnell polemisch werden. Und wenn ich mir manche Debatte in den Medien anschaue, wäre manchmal ein intensiveres Nachdenken gut gewesen. Das ist ein Phänomen unserer Zeit.
Ein aktuelles Phänomen ist auch, dass viele Menschen einen Glaubwürdigkeitsverlust der Medien beklagen. Was denken Sie über den Vorwurf der »Lügenpresse«?
Ich sehe die Situation heute nicht anders als vor einigen Jahren: Einige Medien sind eher im konservativen und andere im linksliberalen Lager angesiedelt. Das ist ihre politische Ausrichtung, das ist ja nichts Neues. Wer die »Welt« oder »Süddeutsche« liest, weiß doch ungefähr, was er erwarten kann. Und wer die Jüdische Allgemeine liest, kann davon ausgehen, dass hier jüdische Interessen vertreten werden. Aber das heißt doch nicht, dass Unwahrheiten berichtet werden. Und das ist ja der Vorwurf, der mit dem Wort »Lügenpresse« erhoben wird. Er ist unberechtigt.

Apropos Unabhängigkeit: Sie haben einmal gesagt, dass kein Jude auf der Welt ein neutrales Verhältnis zu Israel haben kann, schon gar nicht in Deutschland. Wie neutral ist die Jüdische Allgemeine Ihrer Meinung nach in Bezug auf Israel?
In der Jüdischen Allgemeinen gibt es aus gutem Grund eine ausführliche Berichterstattung aus und über Israel. Und dass hier vielleicht auf manches aufmerksam gemacht oder geradegerückt wird, was in anderen Medien – so ist meine Empfindung – nicht immer objektiv berichtet wird, ist gut und richtig. Aber wichtig und richtig ist auch, dass die Jüdische Allgemeine korrekt und wahrheitsgetreu berichtet. Wenn Dinge nach Meinung der Redaktion in Israel schieflaufen, dann darf und soll man das auch benennen, sonst bleibt man nicht glaubwürdig.

Sie haben Anfang des Jahres in einer Rede festgestellt, dass sich die Kenntnisse des Judentums in der Mehrheitsgesellschaft in Deutschland leider sehr häufig auf die Zeit des Nationalsozialismus beschränken. Ein großer Teil der Leserschaft ist nicht jüdisch. Hat die Jüdische Allgemeine in diesem Bereich eine besondere Aufgabe und Funktion?
Ja, das halte ich für eine wichtige Aufgabe der Zeitung. Allerdings sollten wir uns auch fragen, wie weit wir mit der Zeitung in die nichtjüdische Umweltgesellschaft hinein wirken können. Wir dürfen nicht so vermessen sein, anzunehmen, dass ein breiter Anteil der nichtjüdischen Bevölkerung die Jüdische Allgemeine liest. Wir erreichen vermutlich nur das interessierte Publikum. Dabei sollten wir aber auch die Chancen des Internets und der sozialen Medien nicht unterschätzen, mit deren Hilfe man in der Lage ist, jüdische Nachrichten und relevante Meldungen schnell zu verbreiten.

Der Zentralrat wird in der Öffentlichkeit häufig als Mahner und Kritiker wahrgenommen. Leider ertappen wir Blattmacher uns auch oft dabei, dass wir vielleicht zu häufig mahnende oder kritische Leitartikel und Kommentare bringen. Kommt das Positive zu kurz?
Es gilt, und das ist keine Kritik an der Jüdischen Allgemeinen, sondern eine Feststellung in Bezug auf unsere gesamte Medienlandschaft: Only bad news are good news. Ich sehe das nicht als Medienschelte. Selbstverständlich gibt es viel Positives aus dem jüdischen Leben in Deutschland zu berichten, und das tun Sie ja auch.

Welche Schlagzeile würden Sie gerne einmal in der Zeitung lesen?
Die Headline meiner Wahl wäre: »Jüdische Gemeinschaft in Deutschland wächst – inzwischen wieder 200.000 Mitglieder«.

Was wünschen Sie der Jüdischen Allgemeinen für die nächsten 70 Jahre?
Ich wünsche ihr – zunächst einmal für die nächsten 70 Jahre –, dass sie weiterhin so wach ist und am Ball bleibt, dass sie die Entwicklung in gesellschaftlicher und medialer Hinsicht auch in Zukunft gut mitgestaltet. Und ich wünsche ihr, dass es in 70 Jahren weiterhin die Notwendigkeit einer Jüdischen Allgemeinen gibt und sie in Print und Online die Auflage und Reichweite mindestens verdoppeln kann.

Mit dem Präsidenten des Zentralrats der Juden sprachen Heide Sobotka und Detlef David Kauschke.

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