Archäologie

Ruine am Tacheles

Sie gruben, schürften, fegten Sand von den Steinen – Tag um Tag kamen kleine braun-rote Flächen zum Vorschein, wurden helle Mauerreste freigelegt, die allmählich eine Art Grundriss formten. Seit Ende April sind Archäologen auf dem Gelände zwischen Oranienburger Straße und Johannisstraße im Bezirk Mitte tätig. Dort, wo sich in den vergangenen Jahren ein teilweise betonierter Parkplatz erstreckte, liegen nun Überreste der ersten Reformsynagoge Berlins frei.

Dass es sich bei den flachen Mauern, die vielleicht hüfthoch sind, um die des Gotteshauses handelt, bestätigte die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt der Jüdischen Allgemeinen: »Im Befund zeigen sich die Überreste der ersten Reformsynagoge Berlins, die von 1852 bis 1853 gebaut wurde«, sagte Karin Wagner, die den Fachbereich Gartendenkmalpflege und Archäologie leitet, am vergangenen Freitag.

Bima Erhalten seien Teile des Kellergeschosses sowie Fußbodenüberreste, erklärte Wagner. Bisher gebe es aber »keine architektur- oder ritualabbildenden Baureste oder Funde«. »Die Fundamente der Bima in Form von vier Punktfundamenten ließen sich zuordnen«, hieß es.

Dass an diesem Ort die Reformsynagoge stand, war kein Geheimnis: Einen Hinweis auf das 1854 eingeweihte und in der Pogromnacht vom 9. November 1938 stark zerstörte Gotteshaus gab zuvor lediglich eine Informationstafel, die 2006 aufgestellt wurde. Sie informierte mit Bildern und Text darüber, dass der »Reformtempel« nach der Pogromnacht teilweise wieder instand gesetzt wurde und von 1941 bis Mitte 1942 als Ersatz für die Neue Synagoge in der Oranienburger Straße diente.

Nach dem Krieg wurden die Ruinen der Reformsynagoge abgetragen. »Das Gebäude der Synagoge stand noch nach dem Krieg und ist – wie so vieles – zu DDR-Zeiten abgerissen worden«, sagt Rabbiner Andreas Nachama von der Synagogengemeinde Sukkat Schalom, die sich laut Nachama in der Nachfolge der Reformgemeinde sieht.

Dokumentation Wie es nun mit den Funden weitergeht, darüber wird es laut Fachbereichsleiterin Karin Wagner »eine Diskussion« geben. Die Senatsverwaltung werde mit dem Bauherrn sprechen. Sicher ist, dass »der Befund sorgfältig dokumentiert« werde.

Laut Senatsverwaltung gibt es mehrere mögliche Varianten, um an den Standort der früheren Reformsynagoge zu erinnern. »Materiell wäre zum Beispiel die Bergung eines architekturabbildendenden Baurestes, der nach Abschluss der Bauarbeiten an den Standort der Synagoge zurückgeführt und mit einer Infotafel versehen wird«, erläuterte Wagner.

Eine andere Möglichkeit wäre die sogenannte immaterielle Erhaltung. »Dabei handelt es sich um eine hochwertige Dokumentationstechnik durch ein Laserscanning. Man kann den Grundriss und die aufgehenden Bereiche im Keller erfassen und daraus ein Modell herstellen.«

Rabbiner Andreas Nachama sagte der Jüdischen Allgemeinen, es sei »der Wunsch, dass die Bodenfunde, die es gibt, so ähnlich behandelt werden wie die Funde am Petriplatz, auf dem das ›House of One‹ entstehen wird«. Diese Funde würden unter Bodendenkmalschutz gestellt, erläutert Nachama. »Würden die Funde überspannt werden, wäre es ein Wunsch, dass im Kellergewölbe eine kleine Synagoge entstehen könnte.«

Denkmalschutz Ganz gleich, welche Überreste der früheren Reformsynagoge die Ausgrabungen in den kommenden Tagen noch zutage fördern – schon jetzt ist absehbar, dass »eine würdige Infotafel« unerlässlich ist, sagt Anja Siegemund, Direktorin des Centrum Judaicum.

Sie stimmt der Denkmalschützerin Karin Wagner zu, dass der Fund »sorgfältig dokumentiert« werden müsse. Noch bleiben weitere Informationen abzuwarten, betont Siegemund. Doch so viel kann die Stiftungsdirektorin jetzt schon sagen: An einer Dokumentation möchte das Centrum Judaicum in jedem Fall »gerne beteiligt« werden. »Wir heben den Finger und sagen: Ja, wir wollen hier einbezogen sein.«

Auch Hermann Simon, Gründungsdirektor des Centrum Judaicum, meint: »Man sollte den Ort kennzeichnen und so auf diese wichtige Facette Berliner jüdischer Geschichte hinweisen.«

historisch Die jüdische Reformgemeinde in Berlin gründete sich 1845. Die Reformbewegung, die sich etwa dadurch auszeichnete, dass Gottesdienste vornehmlich in deutscher, nicht in hebräischer, Sprache gehalten wurden, dass es in der Synagoge eine Orgel gab und die räumliche Trennung von Männern und Frauen aufgehoben wurde, wollte sich klar von der bisherigen liturgischen Praxis abgrenzen.

1854 wurde die Synagoge des Architekten Gustav Stier eröffnet und war über 80 Jahre Gotteshaus der Reformgemeinde. Auch wegen dieser starken historischen Verankerung fände es Rabbiner Nachama »gut, wenn man die Funde im Boden beließe, denn wenn man einmal Dinge aus dem Boden entfernt, dann sind sie weg«. Überreste seien »an dem Ort, an dem sie sind, von Bedeutung. Wenn man sie dort wegnimmt, geht die Bedeutung verloren«.

Sensibel Der Bauherr, die pwr Development, die die archäologischen Ausgrabungen finanziert hat, kennt die Bedeutung des Ortes. »Dass ein Fundament freigelegt wurde, ist nicht unerwartet, das war abzusehen«, bestätigte pwr-Geschäftsführer Sebastian Klatt der Jüdischen Allgemeinen.

Es habe bereits vor Beginn der Bauarbeiten »erste Indikationen dafür gegeben, die genau kartiert worden« seien. Das gelte nicht nur für die Synagoge, sondern ebenso für ein altes Brauhaus und eine Brunnenanlage. »Wir haben die Auflage geerbt, alle Arbeiten am Grund und Boden im Vorfeld mit dem Landesdenkmalamt abzustimmen«, sagt Klatt.

Die »Be- und Unterbaubarkeit des Grundstücks« regelt ein Bebauungsplan aus den 90er-Jahren – »das war von vornherein klar.« Das Landesdenkmalamt habe Wert darauf gelegt, dass alles, was im Rahmen der Bauarbeiten auf dem Gelände vorgefunden wird, »auf jeden Fall fachgerecht dokumentiert und unter Begleitung durch entsprechende Experten freigelegt, begutachtet und gesichert wird – das ist es, was wir momentan machen«, so Klatt. Doch wie relevant und bedeutungsvoll sind die Funde im Einzelfall?

3-D-Modell Wesentliche Teile der Fundamente liegen nach seiner bisherigen Einschätzung in einem Bereich, der auch überbaut werden könnte. Es gebe jetzt »vage Überlegungen, wie man damit umgeht«. Eine ist, bewegliche Teile zu sichern und in Form einer Ausstellung publik zu machen. Zudem sei ein »virtuelles 3-D-Modell der Ausgrabung« denkbar.

Die Fundamente jedoch »an Ort und Stelle« zugänglich zu machen, hält Klatt für schwierig, denn: Große Teile der Funde wurden genau dort freigelegt, wo später Überbauten geplant sind. Grundsätzlich werde das gesamte Grundstück »komplett unterbaut«, unterstreicht Klatt, »von der Kante der Johannisstraße bis zur Oranienburger und Friedrichstraße, zwei- bis dreigeschossig, und dann gibt es noch den Hochbau – alles ab dem Erdgeschoss aufwärts«.

Er stützt sich dabei auf das »durch den Bezirk Mitte in Form des Bebauungsplanes öffentlich-rechtlich zugesicherte Planungsrecht«, an dem »Träger öffentlicher Belange« beteiligt sind wie etwa Senats- und Bezirksinstitutionen sowie die Denkmalschutzbehörde. Klatt nimmt an, dass mögliche historische Funde im Rahmen des Bebauungsplanverfahrens sehr gut abgewogen wurden. Auf jeden Fall werde es eine Reminiszenz an die Synagoge der Berliner Reformgemeinde geben.

Bis es soweit ist, fegen die Archäologen Sand von den Mauerresten, vermessen Abstände und besichtigen Details. Die Ausgrabungen werden voraussichtlich jedoch nur noch kurze Zeit in Anspruch nehmen. Letztendlich müssen sich Bauherr, Stadt und Experten einig werden, was mit dem Fund geschehen soll.

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