Venedig

Auf engstem Raum

Silbrig glitzert der Canal Grande. Wie ein Wurm windet sich der Wasserlauf im Sonnenlicht. Für Reisende, die aus der Empfangshalle des Santa-Lucia-Bahnhofs eilen, gibt es kein Halten. Sie strömen zu dem breiten Kanal, der Venedig halbiert, drängen in die Wasserbusse, lassen sich im Minutentakt davonschaukeln, zusammengepfercht wie Schalentiere auf dem Fischmarkt.

Die Serenissima will dem jetzt einen Riegel vorschieben – womöglich macht sie dicht. Sie fürchtet, sonst totgeliebt zu werden. Zugangsbeschränkungen könnten die Anwohner bald vom wilden Touristenansturm erlösen, der allein aus finanziellen Gründen willkommen ist. Diskutiert werden ein Obolus und ein Zeitfenster für Tagesgäste. Der Markusplatz wäre dann endgültig ein Museum.

Die jüdische Gemeinde hat nichts zu befürchten. Juden – mit Venedig seit Jahrhunderten verbunden – dürften passieren. »Wir sind voll und ganz integriert«, sagt Michael Calimani von der Gemeinde. Er goutiert touristisches Interesse, empfiehlt die jüdische Küche, ein Kombiticket für das Jüdische Museum und drei der fünf Synagogen sowie die zahlreichen Läden mit Judaica und Kunstgegenständen.

Isoliert Wann die ersten Juden erstmals die Lagune ansteuerten, ist nicht bekannt. Als Händler auf der Rialto-Brücke sind sie seit dem 10. Jahrhundert bezeugt. Fest steht, dass sie das Ghetto Novo per Dekret zugewiesen bekamen. Vor genau 500 Jahren, am 29. März 1516, fasste der Senat den Beschluss, die religiösen Außenseiter in ein isoliertes Wohngebiet zu sperren. Alle jüdischen Familien der Stadt, es waren rund 700, mussten umziehen und sich am nördlichen Stadtrand auf einem Gelände von rund einem Hektar niederlassen. So entstand das erste Ghetto der Geschichte.

Es befand sich wie auch der heutige Kopfbahnhof im Cannaregio-Viertel und bildete, von Kanälen begrenzt, in jeder Hinsicht eine Insel. Die Brücken über den Rio San Girolamo wurden mit Toren versehen und geöffnet, wenn die Marangona ertönte, die Hauptglocke von San Marco. Bis Mitternacht mussten die Tore wieder geschlossen sein, dafür waren Christen zuständig.

Dieser Bezirk für italienische und deutsche Juden, die die erste Zuwandererwelle bildeten und die deftige Steuern und die Aufsicht selbst bezahlen mussten, lag in einer trüben Gegend nahe den Gefängnissen im Dunstkreis des Todes und der Mönche von San Girolamo, die exekutierte Verbrecher zu begraben hatten.

Wer heute am Bahnhof links abbiegt, gelangt über die Fondamenta dei Scalzi – berstend vor Geschäften für Muranoglasschmuck, Souvenirs und Billigmode – ins Herz des vitalen Stadtteils. Der Tourismus hat das Viertel noch nicht schön geschleckt wie manche andere. Hier in Cannaregio wohnen nicht nur Erinnerungen wie in vielen vornehmen Palazzi, die in Schieflage gerieten und oft schon in elementaren Bereichen kaum mehr unterhalten werden können. Im ehemaligen Ghetto sind sogar noch ein paar Dutzend Juden zu Hause.

Die jüdische Bevölkerung Venedigs ist in den vergangenen 100 Jahren um die Hälfte geschrumpft. »Heute«, sagt Michael Calimari, »leben nur noch 500 Juden in der Stadt, ein Zehntel von ihnen allerdings auf dem Festland in Mestre.« Venedigs Juden sind über die Stadt verstreut. »Sie geben keinem Viertel den Vorzug«, sagt Calimari.

Ihr Büro aber hat die Gemeinde dort, wo einst das Ghetto lag, im Sestiere Cannareggio: Anders als früher ist es dort heute bunt, lebendig und einladend. Studenten und Besucher mögen es gleichermaßen. Fassaden mit granatapfelrotem Anstrich verstärken den pittoresken Eindruck, schmale Wasserarme tun ein Übriges.

Öffentliches jüdisches Leben findet sich in Venedig vor allem in Lokalen. Das Restaurant »Ghimel Garden« am Campo del Gheto Novo hat erst vergangenes Jahr eröffnet, es ist auf Fischgerichte spezialisiert. Auch garantiert koschere Milch- und Käseprodukte gibt es hier (Chalav Israel).

Am Rio della Misericordia, keine 100 Meter entfernt vom Jüdischen Museum, das gleichsam in der Armbeuge des Rio del Ghetto ruht, kann man im Innenhof auf modischen mokkabraunen Korbstühlen Platz nehmen. Den Eingang markieren zwei Terrakotta-Pflanzkübel. Liebevoll werden die Speisen angerichtet, und falls es das Wetter verlangt, verschwindet der Hof unter einem weißen Zelt mit orientalischer Anmutung.

»Dolci Ebraici« In der Calle del Ghetto Vecchio 1143 wird einem Panificio die Tür eingerannt. Auf einem Schild mit zwei Davidsternen wirbt die Bäckerei Giovanni Volpe für unvergleichliche »Dolci Ebraici«, jüdische Süßigkeiten. Ein Tourist aus Aachen verriet dem Online-Portal Tripadvisor, Venedigs »leckerstes Gebäck« probiert zu haben.

Schon die Auslage des kleinen Ladens ist eine Verführung. Der Bäcker zieht alle Register, arrangiert die vielfältigen Backwaren ansprechend auf Glasborden: Das Siegel Salomons ist ein guter Wegweiser, das Brot sieht aus wie von Paolo Veronese gemalt und hätte auch beim Gastmahl im Hause des Levi (1573) gereicht werden können.

Unterdessen ist das vor vier Jahren eröffnete Kosher House Giardino dei Melograni, das Schabbat-Mahlzeiten serviert, Venedigs einzige koschere Herberge. Schöner Terrazzoboden, praktisches Mobiliar und ausgewählte Pflegeprodukte auf Naturbasis zeichnen das Haus aus. Am Schabbat sind Kaffee und Tee gratis, eine Mikwe steht zur Verfügung, und es gibt einen Eruw. Alle Gastronomiebetriebe stehen unter der Aufsicht von Oberrabbiner Gili Benyamin.

Sehenswert ist der jüdische Friedhof, europaweit eine der ältesten erhaltenen Anlagen ihrer Art und 130 Jahre älter als das Ghetto. 1385 erhielten jüdische Geldverleiher aus Deutschland vom Senat erstmals eine Lizenz. Ein Jahr später bekamen die Juden ihren ersten eigenen Friedhof auf dem Lido zugewiesen. Viele Jahrhunderte später sollte die Gegend um den Guten Ort zu einem mondänen Seebad werden.

In Mitteleuropa hatte man den Juden 1348/49 die Schuld am Ausbruch der Pest zugeschoben und sie verfolgt. Viele flüchteten nach Venedig. Mitte des 14. Jahrhunderts verzeichnet die Chronik einen größeren Zustrom. Bis ins späte 18. Jahrhundert wurden sie auf dem historischen Friedhof an der Riviera San Nicholò bestattet – heute eine der beschaulichsten Flaniermeilen am Wasser und bei Touristen nahezu unbekannt. Von der Anlegestelle Santa Maria Elisabetta spaziert man vorbei an kleinen Hotels und folgt der Lagune. Hier kommen die Fähren aus Kroatien und Griechenland an. Auf dem neueren Friedhof in der Via Cipro kann man vor allem sefardische Grabkunst sehen, allerdings ist die Abteilung des 18. und frühen 19. Jahrhunderts verwildert. Die Wege sind kaum begehbar. Die jüdische Gemeinde, sagen manche, lege ihr Augenmerk zu stark auf das späte 19. und das 20. Jahrhundert.

Inquisition Ende des 15. Jahrhunderts fliehen zahlreiche jüdische Flüchtlinge von der Iberischen Halbinsel nach Venedig. Man profitiert von ihrem kaufmännischen Geschick, akzeptiert sie aber nicht als gleichrangig. Im 17. Jahrhundert werden Juden in Venedig vorübergehend geschätzt, dürfen studieren – müssen aber erhöhte Gebühren dafür zahlen. Um diese Zeit entsteht das Ghetto Novissimo, das Neueste Ghetto. Das ist verwirrend, war den Juden doch erst im Jahr 1541 das Alte Ghetto zugeteilt worden, was eine Begriffserklärung nötig macht: Das Ghetto Vecchio ist aus der Perspektive von Venedigs Juden das neuere.

Gebräuchlich war der Begriff jedoch lange zuvor, da es sich um das »alte Gießereiviertel« handelte. Vermutlich kommt das Wort »Ghetto« von dem Verb getar (schmelzen). Im 15. Jahrhundert gab es in Venedig 14 Kupferöfen. Wie das Arsenale am anderen Ende der Stadt, das heute Kunstbiennale-Besucher aus aller Welt fesselt, war das Ghetto ursprünglich eine technisch-militärische Einrichtung am Stadtrand für die Produktion von Artillerie und aus Sicherheitsgründen ummauert.

Juden mussten keine Pogrome fürchten, und ihre Rechtssicherheit galt als einzigartig. Übergriffe von Christen wurden geahndet, Beamte, die unbotmäßiges Verhalten gegen Juden zuließen, wurden bestraft.

Das Ghetto existierte fast 300 Jahre. 1797 wurden die Tore verbrannt. Die Republik Venedig war am Ende. In den vergangenen Jahrzehnten wurde hier und da das eine oder andere Haus restauriert. Eine wirklich umfassende städtebauliche Fürsorge erlebte der Ghettobezirk trotz dieser Anstrengungen jedoch nicht.

In diesen Tagen wird der Gründung des Ghettos vor 500 Jahren offiziell gedacht. »Mit einer Celebrazione«, sagt Michael Calimani. Doch ein Fest könne man »wegen der traumatischen Erlebnisse, die mit der Ghettoerfahrung verbunden sind«, natürlich nicht feiern.

www.veniceghetto500.org

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