Bikur Cholim

Marinas Lächeln

Jeden Tag Yoga, Feldenkrais-Bewegung und Massagen: die heute 25-Jährige Marina (M.) Foto: Gregor Zielke

Die hübsche junge Frau mit den langen braunen Haaren strahlt in die Kamera. Ihre Augen funkeln, aber es ist vor allem ihr Lächeln, das einem als Erstes auffällt. Voller Lebensfreude, Energie und Wärme überstrahlt es fast jedes Bild auf der Facebook-Seite von Marina Nadirashvili. Marina im Kreise ihrer Freunde, beim Feiern, Tanzen und auf Reisen – immer ist da dieses mitreißende Lächeln in ihrem Gesicht. Und Marina ist eine emsige Fotografin: Dutzende Selfies finden sich in ihrer Facebook-Chronik. Doch vor vier Jahren endet die Bilderflut abrupt.

Es ist der 6. Mai 2012. Marina ist gerade dabei, das Berliner Jugendzentrum »Olam« zu verlassen, wo sie einen Großteil ihrer Freizeit verbringt und als Madricha tätig ist. Die damals 21-jährige Studentin fühlt sich nicht wohl, klagt über Kopfschmerzen. Vor dem Haus bricht sie plötzlich zusammen. Ihre Freunde alarmieren sofort den Rettungsdienst, im Krankenhaus folgt der Schock: Ein Blutgefäß in Marinas Gehirn ist geplatzt, »Hirnstammblutung« lautet die nüchterne medizinische Bezeichnung. Es ist nicht der erste Hirnschlag für sie. Schon sieben Monate vorher war sie in München zusammengesackt, hatte sich aber vollkommen erholt. Dieses Mal soll es anders kommen.

Erste Stunden »Drei verschiedene Ärzte wollten die Maschinen abschalten«, erinnert sich Marinas Vater Malkhaz an die ersten dramatischen Stunden im Krankenhaus. Die Mediziner hätten prognostiziert, dass seine Tochter nie wieder selbstständig atmen, sehen, hören oder schlucken könne, die Familie sollte darüber nachdenken, ob sie Marinas Organe spenden wolle. Als er das erzählt, beugt er sich gerade über ihren wuchtigen Rollstuhl und gibt ihr aus einer Flasche etwas Wasser zu trinken – die Ärzte hatten unrecht.

Die heute 25-Jährige liegt im Wachkoma, ein weiterer nüchterner Begriff, der verbirgt, welche Umwälzungen mit einer solchen Diagnose einhergehen. Denn das »Syndrom reaktionsloser Wachheit«, wie ein Wachkoma inzwischen treffender genannt wird, bedeutet, dass Marina rund um die Uhr gepflegt werden muss. Patienten in einem derartigen Zustand haben zwar die Augen geöffnet, sind jedoch nicht bei Bewusstsein. Wie viel sie wirklich von ihrer Umwelt wahrnehmen, ist in der Fachwelt umstritten – nicht jedoch bei Marinas Freunden und Familie.

»Ich bin mir sicher, dass sie in ihrem Körper gefangen ist, aber alles mitbekommt«, betont Mike Delberg. Wie viele von Marinas Freunden besucht auch er sie regelmäßig. Einmal in der Woche bringt Marinas Vater seine Tochter in das Café einer Freundin, um sie weiter am Leben ihrer Freunde teilhaben zu lassen. Dieses Mal sind neben Mike auch Xenia und Michael gekommen. Während Michael Marina von seinem letzten Test an der Uni erzählt, erklärt Xenia, wie stark ihre Freundin ist: »Langsam kommen ihre Reflexe wieder. Sie kämpft!«, ist sie sich sicher.

rollstuhl Nicht minder kämpferisch zeigen sich Marinas Freunde und Familie. Vor allem ihr Vater hat sein Leben ganz auf die Bedürfnisse seiner Tochter eingestellt. Als Marina im November 2013 aus dem Krankenhaus entlassen wurde, wohnte die Familie noch im 4. Stock, der große Therapierollstuhl passte nicht in den Fahrstuhl, der noch dazu zwischen den Etagen hielt. Also trug Malkhaz Nadirashvili erst den Rollstuhl und dann seine Tochter die Treppen herauf und hinunter – und das jeden Tag. »Der Anblick hat mir das Herz gebrochen«, sagt Freundin Xenia, die auch Marinas Chefin im Jugendzentrum war.

Marina in ein Heim zu geben, kam für ihren Vater jedoch nicht infrage: »Da hätte sie nicht die richtigen Therapien bekommen«, ist er sich sicher. Stattdessen informierte er sich über Behandlungsmöglichkeiten und lernte mit der Zeit viel über die medizinischen Hintergründe von Marinas Zustand. Mittlerweile hat er ein ganzes Programm unterschiedlicher Therapien zusammengestellt. »Unsere Tage sind so aufgebaut wie in einer Reha-Station.« »Und diese Reha-Station wird von einer einzigen Person koordiniert und geleitet«, kommentiert Xenia mit einer Mischung aus Belustigung und Bewunderung.

Tatsächlich sei Marinas Terminkalender voller als der eines Politikers, ergänzt Michael. So wird sie nach der Feldenkrais-Methode behandelt und bekommt eine chinesische Klopf- und Massagetherapie, eine Yoga-Spezialistin kümmert sich ebenso um sie wie eine Homöopathin: alles alternative Therapien, die von der Krankenkasse nicht übernommen werden, obwohl sie laut Malkhaz Nadirashvili und ihren Freunden unglaubliche Wirkungen erzielen. »Ihre Fortschritte sind phänomenal«, lobt Mike. Marinas Vater sagt, dass sie nun viel aktiver sei als noch in der Anfangszeit. Sie zeige mehr Mimik und Bewegung. »Man merkt, dass sie ständig zuhört«, beobachtet auch Xenia, so sei Marina schon früher gewesen. »Auch im Jugendzentrum wollte sie immer alles wissen.«

infektionsrisiko Doch diese Fortschritte haben ihren Preis, und das durchaus im doppelten Sinne: Fast täglich gibt es einen Behandlungstermin, ein kräftezehrendes Programm für alle. Das aber wirke, wie Mike betont. Bis vor Kurzem musste der Vater seine Tochter zudem zu jedem Termin mit den öffentlichen Verkehrsmitteln bringen. Gerade im Winter seien diese Wege oft mit einem hohen Infektionsrisiko für Marina verbunden gewesen.

Doch zumindest diese Gefahr ist zunächst einmal gebannt: Dank des unermüdlichen Einsatzes ihrer Freunde fand sich eine Stiftung, die Anfang des Jahres ein behindertengerechtes Fahrzeug spendete. »Wir können noch immer nicht glauben, dass das geklappt hat«, freut sich Xenia.

Gemeinsam hatten sie Briefe an mehrere Stiftungen und Organisationen geschrieben, um Marina diese Mobilität zu ermöglichen. Das Porto dafür wurde im Freundeskreis gesammelt, denn der Therapietopf sollte nicht angerührt werden. Zu wichtig sind die Behandlungen. »Ich mache mir große Sorgen wegen der Zukunft«, gibt Vater Malkhaz zu, der seinen Beruf aufgegeben hat, um sich rund um die Uhr um seine Tochter kümmern zu können. »Was passiert mit ihr, wenn wir die Therapien nicht mehr finanzieren können? Wir müssen sparen, sparen, sparen!«

Spendenseite Damit der schlimmste Fall nicht eintritt, haben Marinas Freunde schon früh eine Spendenseite eingerichtet: Unter www. helpmarina.de erzählen sie von ihrem Schicksal, stellen die junge Frau vor und erklären, warum es so wichtig ist, Geld zu sammeln. Transparenz war ihnen von Anfang an am wichtigsten. »Wir haben viele Anfragen bekommen, ob die Geschichte wirklich stimmt, und uns deshalb entschieden, mit unseren Namen und Gesichtern dafür einzustehen«, erklärt Xenia.

Unterstützt wurde und wird der Spendenaufruf maßgeblich von der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST). »Über unsere Homepage und unseren Verteiler haben wir den Spendenaufruf verbreitet und zum Beispiel alle unsere Madrichim angesprochen«, fasst Nachumi Rosenblatt, Leiter des ZWST-Jugendreferats, die Aktivitäten zusammen. Die Resonanz sei überwältigend gewesen. »Wir sind stolz darauf, wie viele Menschen innerhalb weniger Tage gespendet haben – selbst jene, die Marina als Madricha nicht kannten.« Nach der ersten Sammlung habe die ZWST Marina zum Jugendkongress eingeladen und ihrer Familie den Scheck überreicht. »Sie konnte zwar nicht sprechen, aber man merkte, dass sie weiß, wo sie ist«, erinnert sich Rosenblatt.

Zentralwohlfahrtsstelle Doch bei der Hilfe für Marina geht es nicht nur um Geld: Die ZWST steht der Familie auch als Ansprechpartner zur Verfügung, ohne sich jedoch aufzudrängen. Noch immer informiert die ZWST auch im Newsletter regelmäßig über die Spendensammlung – für Nachumi Rosenblatt eine Selbstverständlichkeit: »Jemandem aus unserer Familie ist etwas passiert, da ist klar, dass wir helfen.«

Als Sozialverband erfahre die ZWST zwar tagtäglich von traurigen Schicksalen, doch Marinas steche schon hervor – auch weil es das einer ganzen Familie sei, sagt Rosenblatt. »Die Eltern opfern sich und haben ihr eigenes Leben auf Pause gestellt, um für Marina da zu sein. Das würde nicht jeder tun.« Der Jugendreferent kennt Marina schon lange, seit 2001 sei sie bei jedem Machane dabei gewesen und habe unbedingt Madricha werden wollen. »Sie war voller Liebe für die Menschen und hatte immer ein riesiges Lächeln in den Augen«, beschreibt er noch immer fassungslos.

Für Rosenblatt verkörpert das Engagement von Marinas Freunden und Familie die Werte der ZWST – und ein Gebot des Judentums. »Bikur Cholim, also der Besuch von Kranken, ist eine Mizwa: Man tut etwas Gutes, ohne selbst davon zu profitieren, und hilft jemandem, der sich selbst nicht helfen kann.« Die Mizwa sei umso wichtiger, da sie auf die Seele des Kranken wirke. Die Grundlage für Bikur Cholim findet sich in der Bibel: Als sich Abraham von seiner Beschneidung erholte, wurde er von Gott besucht. »So wie Er die Kranken besuchte, so müssen auch wir Kranke besuchen«, heißt es dazu im Talmud. Hinzu komme, so Rosenblatt, die Mizwa Zedaka, also das Gebot zur Wohltätigkeit, für die es verschiedene Stufen gibt und die bei Weitem nicht nur um finanzielle Hilfe kreist. »Man kann ebenso Zeit spenden oder auch Kraft«, erläutert Rosenblatt. »Alles, was Marinas Freunde für sie tun, ist diese Wohltätigkeit.«

zedaka Ähnlich äußert sich auch Rabbiner Yehuda Teichtal: »Bikur Cholim und Zedaka sind Säulen des Judentums.« Gebe jemand etwas, dann sei das ein göttliches Zeichen. »Wir sind nicht, was wir haben, sondern was wir geben.« Als Marina im Krankenhaus lag und die Ärzte rieten, die lebenserhaltenden Maschinen abzuschalten, unterstützte Rabbiner Teichtal die Familie in ihrer Entscheidung, dies nicht zu tun. »Das Leben ist von Gott gegeben und damit heilig«, betont er mit kräftiger Stimme.

Niemand möchte sich vorstellen, was wäre, wenn sich damals die Mediziner durchgesetzt hätten. »Marina ist in unserer Mitte, und das hat sich nicht geändert«, sagt Mike Delberg, und tatsächlich scheinen Marinas Augen ihn zu fixieren, als er hinzufügt: »Nur ist es jetzt unsere Pflicht, zu ihr zu gehen, denn sie kann nicht mehr zu uns kommen.« Für Xenia Fuchs ist das auch der Grund dafür, dass sich ihre Freunde Jahre nach dem Schicksalsschlag derart um Marina kümmern. »So wie unser Leben weitergeht, geht auch ihres weiter – aber als Teil der Familie.«

Spendenkonto: Vladislava Zdesenko IBAN: DE19 1203 0000 1010 6752 86, BIC: BYLADEM1001. Das Konto läuft auf die Rechtsanwältin der Familie, die Erträge werden ausschließlich für Marinas Therapien verwendet.
www.helpmarina.de

Pessach

Vertrauen bewahren

Das Fest des Auszugs aus Ägypten erinnert uns daran, ein Leben in Freiheit zu führen. Dies muss auch politisch unverhandelbare Realität sein

von Charlotte Knobloch  22.04.2024

Pessach

Das ist Juden in Deutschland dieses Jahr am wichtigsten

Wir haben uns in den Gemeinden umgehört

von Christine Schmitt, Katrin Richter  22.04.2024

Bayern

Gedenkveranstaltung zur Befreiung des KZ Flossenbürg vor 79 Jahren

Vier Schoa-Überlebende nahmen teil – zum ersten Mal war auch der Steinbruch für die Öffentlichkeit begehbar

 21.04.2024

DIG

Interesse an Israel

Lasse Schauder über gesellschaftliches Engagement, neue Mitglieder und die documenta 15

von Ralf Balke  21.04.2024

Friedrichshain-Kreuzberg

Antisemitische Slogans in israelischem Restaurant

In einen Tisch im »DoDa«-Deli wurde »Fuck Israel« und »Free Gaza« eingeritzt

 19.04.2024

Pessach

Auf die Freiheit!

Wir werden uns nicht verkriechen. Wir wollen uns nicht verstecken. Wir sind stolze Juden. Ein Leitartikel zu Pessach von Zentralratspräsident Josef Schuster

von Josef Schuster  19.04.2024

Sportcamp

Tage ohne Sorge

Die Jüdische Gemeinde zu Berlin und Makkabi luden traumatisierte Kinder aus Israel ein

von Christine Schmitt  18.04.2024

Thüringen

»Wie ein Fadenkreuz im Rücken«

Die Beratungsstelle Ezra stellt ihre bedrückende Jahresstatistik zu rechter Gewalt vor

von Pascal Beck  18.04.2024

Berlin

Pulled Ochsenbacke und Kokos-Malabi

Das kulturelle Miteinander stärken: Zu Besuch bei Deutschlands größtem koscheren Foodfestival

von Florentine Lippmann  17.04.2024