Briefwechsel

»Israels Sohn nach Hause geleuchtet«

Goethe hat in seinem literarischen Werk die Situation der Juden und seine Haltung zu ihnen nur einmal an prominenter Stelle thematisiert, nämlich in Dichtung und Wahrheit. Im 1811 erschienenen ersten Teil seiner Autobiografie beschreibt er die Lebensbedingungen der jüdischen Bevölkerung in seiner Vaterstadt Frankfurt: »Zu den ahndungsvollen Dingen, die den Knaben und auch wohl den Jüngling bedrängten, gehörte besonders der Zustand der [...] Judengasse [...]. Die Enge, der Schmutz, das Gewimmel, der Accent einer unerfreulichen Sprache, alles zusammen machte den unangenehmsten Eindruck [...]. Es dauerte lange bis ich allein mich hineinwagte, und ich kehrte nicht leicht wieder dahin zurück, wenn ich einmal den Zudringlichkeiten so vieler etwas zu schachern unermüdet fordernder oder anbietender Menschen entgangen war. [...] Indessen blieben sie doch das auserwählte Volk Gottes, und gingen, wie es nun mochte gekommen seyn, zum Andenken der ältesten Zeiten umher. [...] Ueberdieß waren die Mädchen hübsch [...]. Aeußerst neugierig war ich [...], ihre Ceremonien kennen zu lernen. Ich ließ nicht ab, bis ich ihre Schule öfters besucht, einer Beschneidung, einer Hochzeit beygewohnt und von dem Lauberhüttenfest mir ein Bild gemacht hatte.«

Der Verfasser gibt hier freilich die Wahrnehmung des Heranwachsenden wieder und porträtiert so einen Zustand, den rund ein halbes Jahrhundert vom Schreibzeitpunkt trennt. Sein Blick in eine weit zurückliegende Vergangenheit lässt kaum Rückschlüsse auf Goethes aktuelle Haltung zu. Darstellungstechnisch dient diese Passage dem Zweck, den Charakter der eigenen Person zu konturieren, liefert sie doch einen weiteren Beleg für die Neugier und den Wissensdrang des »Knaben«, der bereits in jungen Jahren immer auch einen Blick für weibliche Schönheit hat.

Reformen In ein verändertes Licht rückte Goethes autobiografische Darstellung erst, als 1835 – knapp ein Vierteljahrhundert später – das Erstlingswerk Bettine von Arnims erschien. Auch in Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde findet sich ein Abschnitt, der sich um die Situation der jüdischen Bevölkerung Frankfurts dreht, fokussiert auf ein zentrales Datum der Stadthistorie wie der jüdischen Emanzipationsgeschichte.

Der Regierungsantritt Karl Theodor von Dalbergs als Fürstprimas des Rheinbundes und Oberhaupt der ehemals Freien Reichsstadt Frankfurt am 9. September 1806 hatte Hoffnungen geweckt, die rechtliche und soziale Stellung der Juden werde sich verbessern. Ermutigt durch einige liberale Erlasse, sahen weite Teile der jüdischen Bevölkerung Frankfurts Dalberg als Wohltäter an und versprachen sich von ihm die völlige Gleichstellung. Das entscheidende administrative Dokument sollte eine revidierte »Stättigkeitsurkunde« sein, welche die alten Vorschriften von 1616 aufhob.

Aber schon bald registrierte Dalberg, welch massiven Widerstand es in der Stadt gegen eine Liberalisierung der Judengesetzgebung gab, und beschränkte seine Emanzipationspläne auf ein Mindestmaß. Die Ende November 1807 verabschiedete »Neue Stättigkeits- und Schutzordnung der Judenschaft zu Frankfurt am Main« enttäuschte deshalb die jüdische Bevölkerung, weil sie deren inferiore Stellung in der Stadt festschrieb. Spürbare Verbesserungen gab es nur im Schul- und Erziehungswesen.

In der ersten Februarhälfte erreichte Goethe ein Brief Bettine Brentanos, in dem sie auf die Lage in Frankfurt einging: »Alle Juden schreiben seit den neuen Gesetzen ihrer Stättigkeit [...] Alle Cristen schreiben aber über Erziehung [...]; nur machen diese neuen Schulen vielen Spaß, ich geh beinah in jedes öffentliche Examen derselben«.

Goethe wollte sich nun selbst ein Bild machen und richtete am 24. Februar 1808 folgende Bitte an Bettine Brentano: »Senden Sie mir doch die Jüdischen Broschüren. Ich möchte doch sehen wie sich die modernen Israeliten gegen die neue Städtigkeit gebehrden [...]. Mögen Sie etwas von den christlichen Erziehungsplanen beylegen, so soll auch das unsern Dank vermehren.«

Broschüre
Ende März 1808 ging eine umfangreiche Materialsendung nach Weimar. Zu den Schriften, die Bettine Brentano sandte, gehörten der Aufsatz Einige Worte ueber Erziehung mit besonderer Hinsicht auf das juedische Philanthropin in Frankfurt am Main (1807) des in Frankfurt lehrenden Philosophen und Pädagogen Franz Joseph Molitor sowie die Broschüre Unterthänigste Vorstellung an Seine Hoheit den Fürst Primas der Rheinischen Konföderation über höchst dessen neue Stättigkeits- und Schutzordnung für die Judenschaft in Frankfurt am Main (1808) des Braunschweiger Bankiers, Schulgründers und Landesrabbiners Israel Jakobsohn bzw. Jacobson, der als Vorkämpfer der Emanzipation der Juden in Deutschland galt.

Goethe bedankte sich am 3. April 1808 für das Material und bat Brentano, ihn auch künftig über die Entwicklungen auf dem Laufenden zu halten. Zugleich deutete er an, wie er selbst zu den Emanzipationsbestrebungen der Juden stehe: »Die Documente philanthropischer Christen- und Judenschaft sind glücklich angekommen, und Ihnen soll dafür, liebe kleine Freundinn der beste Dank werden. [...] Fahren Sie fort mir von diesen heilsamen Anstalten, als Beschützerinn derselben, mir von Zeit zu Zeit Nachricht zu geben. Dem Braunschweigischen Juden Heiland ziemt es wohl sein Volk anzusehen, wie es sein und werden sollte; dem Fürsten Primas ist aber auch nicht zu verdenken, daß er dieß Geschlecht behandelt wie es ist, und wie es noch eine Weile bleiben wird.« Brentanos Engagement kommentierte er erkennbar mit einer gewissen Süffisanz.

Goethes Wunsch, weiterhin von den Reaktionen auf die Neue Stättigkeits- und Schutzordnung sowie den aktuellen pädagogischen Reformbestrebungen Nachricht zu erhalten, kam Brentano umgehend nach und sandte abermals einige »gedruckte Hefte« nach Weimar, darunter die im März anonym erschienenen Bemerkungen über des Herrn Geh. Finanzrath’s Israel Jakobsohn unterthänigste Vorstellung an Se. Hoheit den Fürst Primas, der Rheinischen Conföderation. Höchst dessen neue Stättigkeits- und Schutz-Ordnung für die Judenschaft in Frankfurt am Main betreffend (1808). In dieser Gegenschrift wird Jakobsohn als unzufriedener »Tadler« hingestellt, dem im »Eifer« seiner Argumentation beständig »Fehlgriffe« unterlaufen. Der ungenannte Verfasser weist deshalb die von Jakobsohn geäußerte Kritik auf ganzer Linie zurück und bestreitet rundheraus, dass »die Judenschaft Ursach zur Klage« habe.

Erziehung
Des Weiteren überschickte Bettine Brentano den ersten Teil des Essays Über bürgerliche Erziehung, mit besonderer Hinsicht auf das jüdische Schulwesen in Frankfurt von Molitor, in dem sie eine Stelle darin eigenhändig hervorhob. Dort geht es um die Bedeutung der Erziehung für die Zukunft der Juden. Molitors Credo lautet: »Die Erziehung, und vorzüglich die bürgerliche, ist das einzige Mittel, diese unglückliche Reste jener alten Nation mit den Europäern zu assimilieren. Und was ließe sich von diesem genialischen Volke erwarten, wenn es eine gehörige Leitung durch die Erziehung erhielt; von diesem Volke, aus dem einst die größte aller Weltrevolutionen hervorging, und der erste Impuls zu unserer heutigen Kultur gegeben wurde.«

Den folgenden Satz hat Bettine Brentano mit Tinte unterstrichen: »Was ließe sich von einem solchen Volke erwarten, das in dem großen Kampfe mit dem Weltschicksale sich durch seine eigne Kraft noch immer erhalten, indeß die andere Völker des Alterthums bis auf ihre Namen untergegangen sind.« Sie schließt demnach, wie Molitor, vom Durchhaltevermögen des jüdischen Volkes auf seine Zukunftsfähigkeit.

Am 20. April 1808 bedankte sich Goethe »für die gedruckten Hefte«. Besonders ausführlich ging er auf die Gegenschrift zu Jakobsohns Unterthänigster Vorstellung ein: »Es war mir sehr angenehm zu sehen, daß man den Finanzgeheimeräthlichen, Jacobinischen Israels Sohn so tüchtig nach Hause geleuchtet hat. [...] Leider ist das Ganze nicht rasch, kühn und lustig genug geschrieben, wie es hätte seyn müssen, um jenen Humanitätssalbader vor der ganzen Welt einfürallemal lächerlich zu machen. Nun bitte ich aber noch um die Judenstädtigkeit selbst.«

Zwei Tage darauf artikulierte Brentano ihre Enttäuschung darüber, dass Goethe sie nur als Materiallieferantin behandle. Auch im Folgebrief, der nach dem 7. Mai 1808 geschrieben wurde, erneuert sie ihre Klage: »[...] wenn ich nun wieder einmal zu Dir [nach Weimar] komme, und schmeichle Dir Küß Dir die Händ und Lippen, wirst Du da auch sagen: wie befinden sich die Juden, und sonst nichts?« Damit endete die gut drei Monate andauernde Phase, in der die Situation der Frankfurter Juden bestimmendes Thema der Korrespondenz war.

Retuschen 27 Jahre später veröffentlichte die mittlerweile verwitwete Bettine von Arnim ihre Korrespondenz mit dem Weimarer Dichter. Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde freilich ist eine teilfingierte Quellenedition, in der die Herausgeberin Schriftstücke nach Belieben verändert oder hinzuerfindet. Angesichts der Freiheiten, die sich Bettine von Arnim im Umgang mit den Dokumenten erlaubte, ist es umso erstaunlicher, dass sie in den Briefen, die sich mit den Frankfurter Juden beschäftigen, allenfalls geringfügige Retuschen vornahm.

Zugleich betont Bettine von Arnim auch ihre eigene Solidarität mit den Juden. Das Schreiben, mit dem zusammen sie die Neue Stättigkeits- und Schutzordnung übersendet, erweitert sie um eine umfangreiche Stellungnahme zugunsten der jüdischen Emanzipationsbestrebungen: »Dem Primas hüt’ ich mich wohl, deine Ansichten über die Juden mitzuteilen, denn einmal geb’ ich dir nicht recht, und hab’ auch meine Gründe; ich leugne auch nicht, die Juden sind ein heißhungriges, unbescheidenes Volk; wenn man ihnen den Finger reicht, so reißen sie einem bei der Hand an sich [...]; das kommt eben daher, daß sie so lang in der Not gesteckt haben [...]; das hat nicht wenig Überwindung der Vorurteile gekostet, bis die Christen sich entschlossen hatten ihre Kinder mit den armen Judenkindern in eine Schule zu schicken, es war aber ein höchst genialer und glücklicher Gedanke von meinem Molitor, für’s erste Christen- und Judenkinder in eine Schule zu bringen; die können’s denn mit einander versuchen, und den Alten mit gutem Beispiel vorgehen.«

Nahziel Auch wenn dieses Bekenntnis als Fernziel durchaus die völlige Gleichstellung der Juden ins Visier nimmt, ist das Nahziel eher ein pädagogisches denn ein politisches: Bettine von Arnim spricht sich für das in Frankfurt eingerichtete Modell der Ko-Edukation von »Christen- und Judenkindern« aus. Nötig sei eine wechselseitige »Überwindung der Vorurteile«.

Demnach hat es wenig Sinn, Bettine Brentano und Goethe pauschal als pro- oder antijüdisch einzustufen. Vielmehr markiert der unterschiedliche Blickwinkel auf Zeithorizonte und Entwicklungsperspektiven des Judentums die eigentliche Differenzlinie zwischen beiden. Während Goethe »dieß Geschlecht behandelt wie es ist, und wie es noch eine Weile bleiben wird«, betrachtet Brentano es, »wie es sein und werden sollte«. Letztlich geht es also um die Frage, ob Vergangenheit und Gegenwart den Ausschlag geben sollen bei der Frage, wie Christen und Juden zusammenleben sollen, oder ob zukunftsorientiertes Handeln nicht der mächtigere Hebel ist, um gesellschaftliche Zustände zu verbessern.

In Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde wird Goethes Position entschiedener hinterfragt als in den realen Briefen. Bettine von Arnim wiederum verhehlt durchaus nicht ihre eigenen Vorbehalte und latenten Ressentiments, bekennt sich jedoch klarer als in der Originalkorrespondenz zum Ziel einer Emanzipation der Juden, dem vorrangig auf dem Weg der Erziehung nähergerückt werden soll. Die »Judenfrage« erscheint ihr nicht als Problem der Juden, sondern als die Unfähigkeit der christlichen Umwelt, die Juden als Juden gelten zu lassen.

Den zeitgenössischen Lesern indes erschien Goethes Stellung zu den Juden nun in anderem Licht. Seine Abneigung gegenüber ihren »Gebräuchen« bestand auch nach über 40 Jahren unverändert weiter, und die Scheu des Heranwachsenden vor dem ihm Unbekannten hatte beim reifen Mann nicht etwa einer toleranten Haltung Platz gemacht, sondern sich stattdessen zu einer feindlichen Auffassung gegenüber allen Versuchen einer Gleichstellung verhärtet.

Es verwundert deshalb nicht, wenn Ludwig Börne die entsprechenden Passagen im Briefwechsel als demaskierend empfand: »Frau v. Arnim war eine Katholikin, sie gehörte zu den unterdrückten Volksklassen, sie war also Weltbürgerin, und dieses bewahrte sie vor der Engherzigkeit und Philisterei, von der sich der Protestant Goethe, dessen Familie zur herrschenden Partei gehörte, nie losmachen konnte. [...] Er war schon sechzig Jahre alt, stand auf dem höchsten Gipfel seines Ruhms, und Weihrauchwolken unter seinen Füßen wollten ihn trennend schützen vor den niedern Leidenschaften der Thalbewohner; – da ärgerte er sich, als er erfuhr, die Frankfurter Juden forderten Bürgerrechte, und er geiferte gegen die ›Humanitätssalbader‹, die den Juden das Wort sprächen.«

Der Autor ist Leiter der Brentano-Abteilung im Frankfurter Goethe-Haus. Gekürzte Fassung eines Vortrags auf der Tagung »Goethe in der deutsch-jüdischen Kulturgeschichte« im Goethe-Nationalmuseum Weimar, 7.–10. März

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