Frankfurt/Main

Sorge und Solidarität

Wird der Strom von Flüchtlingen aus arabischen Ländern nach Deutschland einen verstärkten Antisemitismus, einen erneuten Rechtsruck auslösen, und wie wirkt sich das auf die jüdische Gemeinschaft aus? Wie können die Gemeinden ihre Hilfe anbieten, aber auch ihre Sorgen formulieren? Im Ignatz Bubis-Gemeindezentrum in Frankfurt wurde am vergangenen Donnerstag darüber äußerst kontrovers diskutiert.

Messerattacken auf Makkabi-Fußballer, No-Go-Areas für Juden in Berlin, pro-palästinensische Demonstranten in Frankfurt, die »Juden ins Gas« skandieren – der ältere Mann, Mitglied der Jüdischen Gemeinde Frankfurt, fühlt sich mit seinen Ängsten nicht ernst genommen. »Am Boden brodelt es, und die Politik ignoriert das.« Er ist überzeugt: »Unser Leben ist bedroht.« Den Zuzug vor allem muslimischer Flüchtlinge aus dem Nahen und Mittleren Osten nach Deutschland sieht er mit Sorge.

Demokratie Auch Salomon Korn, der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Frankfurt, hatte in seiner Begrüßungsrede Bedenken angemeldet. »Es kommen Menschen«, sagt Korn, »die nicht mit Demokratie und Menschenrechten aufgewachsen sind«, die im Hass auf Juden erzogen wurden. In vielen Ländern gebe es Probleme mit muslimischen Einwanderern, weil sie ihrer Kultur und Religion verhaftet blieben und schwieriger zu integrieren seien, meint der Gemeindevorsitzende.

Hinter den Saalmikrofonen stehen die Redner, die etwas zu dem Thema beitragen möchten, an diesem Gesprächsabend im Frankfurter Westend, schon Schlange. »Wir wollen keine französischen Verhältnisse«, sagt einer in Anspielung auf die Attentate auf Islamkritiker und Juden in Paris Anfang dieses Jahres. »Wie hoch ist denn die Akzeptanz bei arabischen Flüchtlingen für jüdische Hilfsorganisationen und Angebote?«, will ein weiterer Redner wissen und gibt sich seine Antwort gleich selbst: »Vermutlich null.«

Die 13-jährige Anna hält es nicht mehr auf dem Sitz. Sie berichtet von einem Flüchtlingsvater mit zwei Kindern, den ihre Mutter zum Bahnhof gefahren habe. »Er war freundlich, hat sich sehr gefreut, und meine Mutter trägt immer ganz sichtbar für alle den Davidstern an einer Halskette«, erzählt sie. Und sie nennt ein zweites positives Beispiel. Ein Flüchtling in ihrer Schule sei »total froh« über die Bildung, die er nun erhalte. »Es geht doch um Menschlichkeit, nicht um Religion«, ruft die Schülerin in den Saal – und erhält viel Applaus.

Redebeiträge, die typisch sind für den Abend in der Frankfurter Gemeinde, deren Mitglieder angesichts der Flüchtlingsbilder zwischen Sorge und Solidarität schwanken. Auf dem Podium hat zuvor Abraham de Wolf, Rechtsanwalt und Mitglied des Arbeitskreises jüdischer Sozialdemokraten, von den gemeinsamen Werten in der jüdischen und deutschen Gesellschaft gesprochen. »Wir können nicht zuschauen, wenn so viele Menschen in Not sind.« Auch von einem Ende der Hilfsbereitschaft könne nicht die Rede sein. Deutschland sei ein reiches Land, und ärmere Staaten wie der Libanon oder Jordanien hätten viel mehr Menschen aufgenommen.

Die Flüchtlingskrise werde Deutschland verändern, konstatiert er jedoch. Es kämen ein bis zwei Millionen Flüchtlinge, die von Kindheit an antisemitisch und israelfeindlich erzogen wurden. »Das muss man in Deutschland auch so deutlich sagen und dagegensteuern. Ignorieren bedeutet sonst fördern«, erklärt de Wolf.

Mitleid Die Flüchtlingsströme haben für Detlef Michaelis vom jüdischen Psychotherapeutischen Beratungszentrum Frankfurt »fast schon biblischen Charakter«. Ein solcher Ansturm löse natürlich Mitleid, aber auch Aversion aus. Gefühle und Ängste, die Bewegungen wie Pegida und Politiker ausnutzten. Michaelis appelliert, den Dialog aufzunehmen: »Es muss viel Kommunikation und Begegnung geben«, eine individuelle Ebene der Verständigung zwischen Juden und muslimischen Flüchtlingen.

Aron Schuster, der stellvertretende Direktor der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST), erinnert daran, dass die Gemeinden selbst Anfang der 90er-Jahre Zuzug und Integration russischsprachiger Juden erlebt haben. Erfahrungen, die sie weitergeben könnten. Auch diese Menschen seien ja aus einem nichtdemokratischen Kulturkreis gekommen und hätten viel lernen müssen. Schuster regt auch an, Arabisch sprechende Israelis einzubinden, die viel Erfahrung mit muslimischen Flüchtlingen und traumatisierten Menschen haben.

Die Aussage von Bundeskanzlerin Angela Merkel »Wir schaffen das« hält er in puncto Grundversorgung durch Essen und Unterkunft für möglich, nicht aber bei der rechtsstaatlichen Integration. »Wer als Flüchtling heute in Passau die deutsche Grenze überschreitet, ist ja damit nicht automatisch ein Demokrat.« Schuster fordert, ihre politische Bildung zu stärken und Integrationskurse zur Pflicht zu machen, »damit sich die Menschen in unseren Rechtsstaat einfinden«.

Moderator Doron Kiesel, wissenschaftlicher Direktor der Bildungsabteilung im Zentralrat, spricht von der »Demokratie als Erziehungsprojekt« – ähnlich wie es die Deutschen nach dem Ende des NS-Staates selbst erlebt hätten.

In Frankfurt leben derzeit rund 4000 Flüchtlinge, die meisten kamen aus Eritrea, Afghanistan oder Syrien, berichtet die Sprecherin des Sozialdezernats der Stadt, Manuela Skotnik. Unter ihnen seien auch viele unbegleitete Minderjährige. Bei der Versorgung mit Essen, Wohnraum, Kleidung und Sprachkursen kämen die Stadt und die Helfer kaum nach. »Ich bin demütig, was da geleistet wird«, sagt sie. Überdies seien rund 300 ehrenamtliche Deutschlehrer im Einsatz.

muslimische Hilfe Welche Hilfe oder Unterstützung muslimische Gemeinden oder Moscheen anböten, wollen viele Fragesteller im Publikum wissen. Die Willkommenskultur sei da gleich null, hatte der Journalist und Publizist Günther B. Ginzel zuvor erklärt. Auch viele reiche arabische Staaten verweigerten den Flüchtlingen die Hilfe. Der Islam kämpfe gegen sich selbst. Skotnik berichtet von Hilfsangeboten muslimischer Gruppen in Frankfurt, doch die prüfe man sehr genau, denn »darunter sind auch extreme Gruppierungen«. Die Stadt wolle verhindern, »dass Flüchtlinge instrumentalisiert werden«.

Der Sozialdemokrat de Wolf und auch andere Redner verlangen, dass die Flüchtlinge, die Hilfe von einer Gesellschaft erlangen, sich auch verpflichten, deren Werte zu schätzen und zu achten. Er hofft dabei auf einen »Mentalitätswechsel«, denn die Menschen flöhen vor einem System und einer Gesellschaft, »die sie ausspuckt«. Es gibt viele Redner an diesem Abend, die sich gegen die undifferenzierte Gleichsetzung »Flüchtling gleich Juden- und Israelhasser« wehren. »Nicht jeder Muslim will die Scharia«, sagt ein jüdischer Arzt und berichtet von seinen gut integrierten iranischen Patienten.

Der Journalist Günther B. Ginzel meint, dass es Probleme geben werde, und fügt hinzu: »Doch wichtig ist, auch die positiven Beispiele in den Blick zu nehmen und nicht gleich in Pessimismus abzugleiten. Überraschen wir muslimische Flüchtlinge doch, indem wir uns ihnen freundlich zuwenden.«

Der Rechtsanwalt und Fernsehjournalist Michel Friedman ist da schon aktiv geworden. Gemeinsam mit dem Frankfurter Tigerpalast-Chef Johnny Klinke hat er eine Initiative für Flüchtlinge und Helfer gestartet. Gemeinsam mit der Stadt haben sie in der Paulskirche, der Wiege der deutschen Demokratie, Anfang November einen Willkommens-Nachmittag organisiert – ein fröhliches Fest für rund 1000 Gäste mit Musik, Tanz und Varieté-Auftritten.

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