Jerusalem

Ärzte für Verständigung

Der hochgewachsene Soldat hinkt lautlos über den Linoleumboden. Nur sein Gewehr klackert bei jedem Schritt gegen etwas Metallisches an der Uniform. Sonst ist es ruhig. Die Ärzte und Schwestern in der Notaufnahme des Hadassah-Krankenhauses auf dem Jerusalemer Scopusberg haben Zeit zum Durchatmen. Dem Soldaten ist ein Auto über den Fuß gefahren. Kein Anschlag, ein Verkehrsunfall. Auch das ist in diesen angespannten Wochen ganz normaler Alltag im Universitätsklinikum.

Seit Anfang Oktober, mit Beginn der Anschläge in Jerusalem, ist Hadassah wieder Anlaufstelle für unzählige Krankenwagen geworden: »Wir haben hier auf dem Scopusberg 34 von den 92 Verletzten der Terrorangriffe behandelt«, sagt die Direktorin des Klinik, Osnat Levtzion-Korach. Die anderen 58 Verletzten sind in die Hadassah-Klinik in Ein Kerem gebracht worden. Der Scopusberg mit der Klinik auf der Bergspitze grenzt direkt an arabische Wohnviertel. Viele der Angriffe sind in Laufweite passiert. »Momentan behandeln wir noch zwölf Patienten der Anschläge«, sagt die Direktorin.

Die Entscheidung, welcher Patient in welche Klinik gebracht wird, obliege übrigens keineswegs einer Unterteilung in Täter oder Opfer oder gar Religion. Das Motto von Hadassah ist seit der Gründung vor 97 Jahren, »allen zu helfen, ohne dass Rasse, Religion oder ethnische Herkunft eine Rolle spielen«. So gehe es auch bei den aktuell Verletzten ausschließlich um den kürzesten Anfahrtsweg und die medizinischen Anforderungen, betont Levtzion-Korach. In Ein Kerem beispielsweise gibt es ein größeres Traumazentrum als auf dem Scopusberg.

sicherheitsstufe Hadassah ist ein »gemischtes« Krankenhaus: Jüdische Krankenschwestern und Ärzte kümmern sich um arabische Patienten, und arabische Ärzte und Pfleger behandeln jüdische Patienten. Je größer die Spannungen in Jerusalem sind, desto höher ist auch die Sicherheitsstufe in der Klinik. Noch bevor man zum Haupteingang kommt, gibt es zwei Sicherheitsschleusen. Die elf Attentäter, die seit Anfang Oktober hier behandelt wurden, waren allein im Zimmer – bewacht von Sicherheitsleuten. »Die Sicherheit gilt in beide Richtungen«, erklärt Osnat.

Für Selbstjustiz gebe es im Hadassah keine Chance. Für weitere Gewalt auch nicht. Alle anderen Patienten werden nicht nach Religion, sondern wie anderswo auch nach Abteilung und Bedarf gemeinsam in die Zimmer verlegt. So gab es vor einigen Jahren den Fall, dass der Vater eines Attentäters mit dem Opfer seines Sohnes im gleichen Zimmer lag. »Medizin ist die Brücke zum Frieden«, erklärt die Klinikchefin.

Trotzdem kann sich der Alltag anders anfühlen. »Sobald die Anspannung in Jerusalem steigt, wird es bei uns sehr ruhig – oder es geht hoch her, schwarz oder weiß«, erklärt Elal Peless. Der Leiter der Krankenpfleger in der Notaufnahme arbeitet seit 15 Jahren am Scopusberg. Sein Team besteht aus 30 Krankenpflegern und -schwestern, davon sind 70 Prozent jüdisch, 30 Prozent arabisch. Die Zusammenarbeit auf Basis des medizinischen Ehrenkodexes beginnt im Untergeschoss in der Notaufnahme und zieht sich durch alle Stockwerke der Klinik.

Notaufnahme In der Notaufnahme ist es an diesem regnerischen Oktobertag ruhig geblieben. Neben dem Soldaten, dem das Auto über den Fuß gefahren ist, sitzt eine blasse Frau mit ihrem Mann. »Die Menschen sind angespannt, das äußert sich auch darin, dass sie weniger aus dem Haus gehen«, sagt Elal. Ein Grund ist, dass es in den arabischen Vierteln mehr Kontrollpunkte und Sicherheitszäune gibt und es daher mühsamer ist, in die Klinik zu kommen. »Außerdem sind die Menschen vorsichtiger, und daher passiert weniger.«

Das Gegenteil war in den vergangenen Wochen oft genug der Fall. Sobald es einen Angriff in Jerusalem gegeben hat, ändert sich die Stimmung in der Notaufnahme schlagartig. »Die Frage ist sofort, ob das diensthabende Notfallpersonal die Verletzten meistern kann«, erklärt Elal. Wenn es mehr Verletzte als Personal und Betten gibt, dann tritt »Aran« in Kraft. Aran ist das Notfallprogramm für die Notfallstation: Ärzte, Schwestern und Pfleger, medizinische Geräte und Betten werden aus anderen Abteilungen herangezogen. Seit Anfang Oktober gab es jedoch noch keinen Aran-Fall. Nur eine Trockenübung. Für den Fall der Fälle.

Trauma »In der Klinik haben wir eine Koexistenz zwischen den Religionen, und wir lassen alles Politische vor dem Eingang, sonst könnten wir hier unsere Arbeit nicht richtig tun«, erklärt Klinikdirektorin Osnat. Sie selbst wohnt mit ihrer Familie in Ein Kerem. Auf persönlicher Ebene ließen sich die politische Anspannung und die Angst nicht immer abschütteln.

»Als Mutter sehe ich die Situation natürlich besorgt und lasse meine Jungs derzeit nicht ins Einkaufszentrum. Als Direktorin sehe ich den Bedarf einer größeren Trauma-Einheit auch hier auf dem Scopusberg.« Wenn sie davon spricht, dass Passanten sehen, wie jemandem mit einer Axt der Schädel gespalten wird, und dann im Hadassah sitzen, glaubt man ihr, dass das Politische draußen bleibt. Ihr geht es um traumatisierte Menschen, die Hilfe brauchen. »Beispielsweise nach dem Anschlag an der Yisrael-Straße, da haben wir uns um die Verletzten und um alle Passanten gekümmert«, sagt sie. Die Bilder von dem Auto, das in die Menschenmenge fährt, der Attentäter, der aus dem Wagen springt und wild drauflossticht und -hackt, dürften nicht unverarbeitet in den Köpfen bleiben.

Eine eigene Unterabteilung kümmert sich um traumatisierte Kinder. Dazu gehörte auch der 13-jährige Naor, der in dem Viertel Pizgat Zeev von dem ebenfalls 13-jährigen Ahmed Manasra mit einem Messer angegriffen und schwer verletzt wurde. Naor lag in einem der oberen Stockwerke des Hadassah-Krankenhauses am Scopusberg. Am Dienstag kam dann die Nachricht, dass er nach schneller Genesung das Krankenhaus bereits überraschend verlassen konnte.

»Ich hatte Dienst, als Naor eingeliefert wurde und auch als vergangenen Mittwoch die Unteroffizierin Dikla Mikdash mit einer Stichverletzung am Hals zu uns gebracht wurde«, sagt Alan Abubeih. Der 26-jährige angehende arabische Chirurg arbeitet seit rund einem Jahr im Hadassah. Bei Naor seien andere Ärzte vor ihm da gewesen, bei Dikla war Alan als Erster an der Trage. »Ich habe die Blutung an Diklas Hals gestoppt und später am Brustkorb eine Drainage gelegt, damit das Blut abfließen kann«, erklärt Alan, der aus Nablus kommt. Damit habe er ihr vermutlich das Leben gerettet. Seine Familie sei stolz auf ihn.

Als Außenstehender traut man sich kaum zu fragen, ob das auch dann gelte, wenn er erzählt, dass er Juden das Leben rettet. Alan nickt. Für ihn ist weder die Frage noch die Tatsache etwas Besonderes. »Meine Eltern wollten natürlich auch, dass ich die beste Ausbildung bekomme, und als ich mich beim Hadassah beworben habe, war ihnen klar, dass ich mich für religionsübergreifende Hilfe entscheide.«

Termine Für den Chefarzt Jochanan Schiffman waren die vergangenen drei Wochen intensiv, man sieht ihm die Anspannung an: »Ich habe drei der Hauptattentäter operiert, den 13-jährigen Naor und zwei weitere Schwerstverletzte«, sagt der Chefanästhesist der Klinik. Schiffmans 16-köpfiges Team besteht aus sieben Arabern und neun Juden. »Wenn es um Behandlung geht, dann zählt der Mensch, nicht die Religion«, erklärt er. Dann schiebt er nach: »Machen wir uns aber nichts vor, es ist ein heikles Thema in einer heiklen Zeit, auch unter den Ärzten.« Sein Team rührt Politik daher nicht an. Auch nicht in Kaffeepausen oder wenn Warnmeldungen die Mobiltelefone mal wieder vibrieren lassen.

Besser könnte der Terminplaner von Refat Jabara diese interkulturelle Offenheit nicht verkörpern: Hebräische, arabische und englische Einträge in typischer Ärztehandschrift haben sich zu einem wilden Wimmelbild vermischt. Drei kurze Telefonate in jeweils einer der drei Sprachen, dann hat der Kardiologe Zeit. Der 44-Jährige aus der arabischen Kleinstadt Taybeh ist seit 15 Jahren an einem Tag pro Woche in der Klinik am Scopusberg, sonst arbeitet er im Krankenhaus in En Kerem. »Patienten vertrauen einem, wenn man gut ist, da ist es sekundär, welche Religion man hat«, erklärt Jabara. Sein Team ist zur Hälfte jüdisch und zur Hälfte arabisch. Er selber wohnt in Pisgat Zeev, dort, wo Naor angegriffen wurde. »Es ist schwierig, machen wir uns nichts vor«, sagt Jabara und seufzt.

Der Anschlag passierte nicht weit von seinem Wohnhaus, während er selber in San Francisco auf einer Konferenz das interkulturelle Hadassah-Krankenhaus repräsentierte. »Ist das nicht schon fast ironisch?«, fragt er, aber das Lächeln bleibt aus. Die Nerven sind angespannt. Was wäre, wenn seine Frau und Kinder nicht zu Hause, sondern unterwegs gewesen wären?

Motto Die beiden Hadassah-Kliniken bilden inzwischen die sechsgrößte medizinische Institution in Israel. Der Grundstein für das erste Krankenhaus Jerusalems wurde bereits 1918 gelegt, als Geschenk der Rothschild-Familie. Das Motto war von Anfang an, dass jedem, unabhängig von Religion oder Herkunft, geholfen wird. Im Jahr 2005 wurde dies mit einer Nominierung für den Friedensnobelpreis gewürdigt.

Dabei ist Hadassah nicht die einzige Klinik, die kulturübergreifend arbeitet: Gerade in der vergangenen Woche wurde im Tel Aviver Assuta-Krankenhaus der Schwager von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas am Herzen operiert, und im vergangenen Sommer ist in der gleichen Klinik Abbas’ Ehefrau Amina am Bein behandelt worden.

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