Interview

»Die Schoa kann sich wiederholen«

Der Historiker Timothy Snyder über sein Buch »Black Earth« und Deutschlands eingeschränkte Sicht auf den Holocaust

von Louis Lewitan  26.10.2015 19:24 Uhr

»Die Historiker in Deutschland wissen viel zu wenig über die Zeit des Nationalsozialismus in Osteuropa«: Timothy Snyder Foto: dpa

Der Historiker Timothy Snyder über sein Buch »Black Earth« und Deutschlands eingeschränkte Sicht auf den Holocaust

von Louis Lewitan  26.10.2015 19:24 Uhr

Herr Snyder, Sie stammen aus Ohio, das ist sehr weit weg von Europa und noch weiter entfernt vom Diskurs über den Holocaust. Wie sind Sie dazu gekommen, sich mit dem Thema beschäftigen?
Das Thema ist zu mir gekommen und nicht umgekehrt. Ich bin 1989 als junger Student mit einem Stipendium nach Europa gereist, um über die osteuropäische Geschichte zu forschen. Damals habe ich festgestellt: Wer Osteuropa wirklich verstehen will, der muss sich mit dem Holocaust befassen. Die Schoa ist ein elementarer Teil der osteuropäischen Geschichte, sie wirkt sich bis heute auf die Politik der Staaten Osteuropas aus. Diese Tatsache wird jedoch von hervorragenden deutschen Historikern vernachlässigt, sie wissen nämlich viel zu wenig über die Zeit des Nationalsozialismus in Osteuropa. Hinzu kommt, dass in Deutschland der Holocaust fast ausschließlich als Erinnerungskultur aufgefasst wird. Es wird zwar immer unzweideutig gesagt: »Nie wieder!« und »Wir wissen doch bereits alles über die Schoa«, aber das ist nicht der Fall. Selbst in Deutschland ist das faktische Wissen über die Schoa nicht wirklich beeindruckend.

Die Schoa wird doch in der Schule gründlich behandelt.
Das mag sein. Aber die deutschen Schüler lernen vor allem über die deutschen Juden. 97 Prozent der jüdischen Opfer stammten jedoch nicht aus Deutschland. Verstehen Sie mich nicht falsch: Das Los der deutschen Juden ist ungemein wichtig zu kennen, aber darüber hinaus gibt es noch viele weitere Kapitel des Holocaust. Zwei weitere Fehler möchte ich hervorheben: Zum einen wird die Judenvernichtung als industrieller Massenmord bezeichnet, hierfür steht das Symbol von Auschwitz. Zum anderen denken viele, dass fast alle Juden in Lager deportiert wurden. Tatsache ist: Die meisten Juden wurden in Osteuropa ermordet, ohne je ein Lager gesehen zu haben. Denken Sie beispielsweis an die Massenerschießungen in Babi Yar im Jahr 1941, die Opfer wurden aus nächster Nähe erschossen. Das muss man wissen.

Haben die Deutschen nicht die richtigen Lehren aus der Schoa gezogen?
Es ist zutreffend, dass die Deutschen aus der Schoa gelernt haben. Aber vorherrschend ist eine deutsche Erinnerungskultur, die sich von anderen Ländern unterscheidet. In Deutschland hat die Frage nach den Lehren aus der Schoa das eigentliche Ereignis in den Hintergrund gerückt. Man studiert hierzulande den Holocaust aus einem lernpädagogischen Blickwinkel. Wer wie ich versucht, die geschichtlichen Zusammenhänge neu zu interpretieren, stößt auf Unverständnis. Man habe doch aus der Geschichte gelernt, man möge also das vorherrschende Geschichtsverständnis bitte ja nicht verändern. Als Historiker muss ich die Schoa indes in ihrer Gesamtheit begreifen.

Inwieweit ist die Schoa singulär und kann sich dennoch wiederholen?
Die Schoa, die Zerstörung eines ganzen Volkes, ist singulär im Sinne, dass sie in der Menschheitsgeschichte sowohl in der Theorie als auch in der Realität beispiellos ist, es ist ein Präzedenzfall. Weil die Schoa passiert ist, kann sie sich auch wiederholen. Wir müssten schließlich keine Folgen aus der Schoa ziehen, wenn sie sich nicht wiederholen könnte. Und noch einmal: Ich bin der Auffassung, dass man mehr aus der Geschichte lernen kann, als die Lehren, die bisher meine deutschen Kollegen gezogen haben. Das gilt besonders im Hinblick auf die Zerstörung staatlicher Strukturen und die ökologische Panik.

In Ihrem neuen Buch »Black Earth. Der Holocaust und warum er sich wiederholen kann«, das in diesen Tagen erschienen ist, setzen Sie die Vernichtung der Juden in Zusammenhang mit dem Zerfall staatlicher Strukturen und der Eroberung von Land und Ressourcen. Wo sehen Sie eine Verbindung?

Adolf Hitlers Antisemitismus war Teil einer kohärenten Weltanschauung. Er war zutiefst davon überzeugt, dass das Leben als ein blutiger Überlebenskampf der Rassen um die Ressourcen begriffen werden muss. In diesem Kontext war die Eroberung des Lebensraums im Osten überlebensnotwendig. Für Hitler stand fest, dass alles was nicht diesem Denken entsprach, jüdisch war. So zum Beispiel die zehn Gebote, das Christentum, der Kommunismus – das waren für ihn alles mentale Strukturen, die der arischen Rasse im Weg stehen. Er war der Meinung, dass die Sowjetunion ein jüdischer Staat war und deshalb schnell besiegt werden würde, weil Juden im Kampf nicht bestehen könnten. Er betrachtete die Russen und die Ukrainer als »Untermenschen«, als Leute, die nach einem Herrn schreien. In seinem Denken wollte er den Juden dieses Land ebenso wie beispielsweise die Ukraine entreißen und sie dem deutschen Volk zuführen.

Leben wir heute nicht auch in einem Kampf um Ressourcen – wenn auch in einem zivilisierten Kampf? Denken wir an China und den wachsenden Bedarf an Rohstoffen und Energie.
Das ist genau das, was ich meine, wenn ich sage, dass der Holocaust und der Begriff Lebensraum viel mehr mit unserer Gegenwart zu tun hat, als wir denken. Hitlers Idee von »Lebensraum« bedeutete, dass die Angst um die Sicherung von Nahrung, Ressourcen und Lebensqualität begründet ist und dass man mit allen Mitteln kämpfen sollte, um diese Dinge für das deutsche Volk sicherzustellen. Wer sich keine Sorgen macht und nicht bereit ist, hierfür zu kämpfen, müsse jüdisch sein, so Hitler. Heutzutage in Amerika, wenn es um die Umwelt und den Klimawandel geht, werden Wissenschaftler als Fremde, als Teil einer Verschwörung à la Hollywood beschimpft, das ist nichts anderes als ein Code für Juden. Das passiert jetzt, darüber müssen wir uns ernsthaft Sorgen machen.

Und was ist mit China?
Dieses Regime hat ähnliche Probleme wie Deutschland damals. Es hat einen rasant steigenden Bedarf nach Rohstoffen – zum Beispiel nach Land, Wasser und Energie – und geht deshalb unter anderem in Afrika und Osteuropa strategisch vor, um diesen Bedarf zu befriedigen. Wir können nicht von den Chinesen erwarten, vom Holocaust zu lernen. Wir hingegen sollten aus dem Holocaust sehr wohl die richtigen Schlüsse ziehen und uns darüber im Klaren sein, worauf zu achten ist. Die ökologische Panik ist eine der Schlussfolgerungen, die wir ziehen sollten.

Auf die Gefahr hin, dass es nicht Ihr Spezialgebiet ist: Ist die Angst Israels vor der Vernichtung durch die Mullahs in Teheran aus Ihrer Sicht etwas Irrationales, oder ist die Vernichtung des jüdischen Volkes heute vorstellbar?
Ich bin kein Kenner dieses Gebiets, deswegen wiederhole ich nur, was ich in einem anderen Kontext gefunden habe. Für Adolf Hitler gehörte die Vernichtung des jüdischen Volkes zu seinen wichtigsten Zielen. Es gibt aber auch andere Beispiele in der Geschichte, bei denen klar wird, dass ein Politiker über die Verfolgung von Juden hinaus auch andere Ziele verfolgt. Das ist etwa bei Ion Antonescu in Rumänien zwischen 1940 und1944 der Fall gewesen. In beiden Fällen gibt es massive antisemitische Morde, aber in Rumänien gab es eine Grenze: raison d’État. Und der Iran spielt gezielt mit dieser Angst. Es gibt viele Antisemiten in der ganzen Welt, die unablässig von nichts anderem als der Vernichtung des jüdischen Volkes reden. Man sollte ihre Drohungen sehr ernst nehmen.

Tagsüber sichten Sie unzählige Quellen, lesen tragische Zeugenberichte. Können Sie nachts ruhig schlafen?
(lacht) Man merkt, dass Sie Psychologe sind. Es hilft mir über das, worüber ich forsche, zu schreiben, es verschafft mir eine gewisse Distanz. Und, es hört sich vielleicht vermessen an, aber ich bin davon überzeugt, dass es der Welt nützt, wenn wir das richtige historische Wissen haben. Es gibt auch noch eine weitere Triebfeder: Ich möchte den vielen Zeitzeugenberichten aus der Zeit der Schoa eine Stimme geben. Ich habe ihre Stimmen immer im Ohr. Ich bilde mir ein, dass meine Arbeit wichtig ist. Ich habe das Gefühl, das zu tun, was ich tun sollte.

Erhalten Sie viele antisemitische Zuschriften und E-Mails?
Oh ja, die ganze Zeit und sehr viele. Ich sei Teil »der jüdischen Weltverschwörung«, heißt es darin oft. Die Zuschriften sind insofern nützlich, als dass ich an ihnen die Muster des modernen Antisemitismus studieren kann. Dazu fällt mir folgende Anekdote ein. Ich habe seit Kurzem eine wissenschaftliche Mitarbeiterin, die Jüdin ist. Sie liest alle meine Mails und erzählte mir kürzlich, sie habe aus Rücksicht auf meine Gefühle die vielen antisemitischen Mails gelöscht. Da erwiderte ich, leicht verlegen: Ich habe aus Rücksicht auf ihre Gefühle dasselbe getan.

Das Gespräch mit dem Historiker führte der Psychologe, ZEIT-Kolumnist und frühere Geschäftsführer der Jerome Riker International Study of Organized Persecution of Children, Louis Lewitan.

Timothy Snyder, 1969 geboren, forscht und lehrt als Historiker an der Yale University und ist Permanent Fellow am Institut für die Wissenschaft vom Menschen in Wien. Seine Forschungs- schwerpunkte sind die Schoa und die Geschichte Osteuropas. Snyders aufsehenerregendes Buch »Bloodlands«, 2011 erschienen, wurde in 30 Sprachen übersetzt und unter anderem mit dem Hannah-Arendt-Preis ausgezeichnet. Darin verknüpft er Stalins Terrorkampagnen, Hitlers Holocaust und den Hungerkrieg gegen die Kriegsgefangenen. Anfang Oktober ist Snyders neues Buch »Black Earth« bei C. H. Beck auf Deutsch erschienen.

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