Türkei

Lieber nicht auffallen

Die Türkei steckt in einer tiefen Krise. Parlamentswahlen, gescheiterte Koalitionsgespräche und Neuwahlen werden von Terroranschlägen begleitet. Anhänger der kurdischen Arbeiterpartei PKK greifen türkische Soldaten an, die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) verübt Anschläge gegen Zivilisten. So kamen Anfang des Monats bei einem Selbstmordattentat auf eine Friedenskundgebung in der Hauptstadt Ankara 97 Menschen ums Leben, Hunderte wurden verletzt.

Eine Entschärfung der politischen Krise ist derzeit nicht in Sicht. Die Gesellschaft spaltet sich immer mehr, die aktuelle Situation schürt Unfrieden zwischen den verschiedenen ethnischen und politischen Gruppen im Land. Dabei geraten zunehmend Juden ins Visier von Hassparolen und Hetze.

Die jüdische Gemeinde in der Türkei zählt gerade einmal 17.000 Mitglieder, doch vor allem in den Sozialen Medien ist »jüdisch« eine Chiffre für alle Übel dieser Welt. Kritische Zeitungen werden als »jüdische Vaterlandsverräter« und »heimliche Verbündete des Staates Israel« bezeichnet, die angeblich den Terror in der Türkei unterstützen. Und User schrecken nicht davor zurück, die pro-kurdische Partei HDP, die beschuldigt wird, für die Terrorangriffe der PKK auf türkische Soldaten verantwortlich zu sein, als »Judenknecht« zu bezeichnen und ihr eine heimliche Allianz mit Israel zu unterstellen.

zielscheibe Die türkischen Juden werden, neben anderen Minderheiten, zur Zielscheibe von Feindseligkeiten. So hieß es kürzlich in einem Tweet: »Dieses Land gehört nur dem türkischen Volk, das ist seit 7000 Jahren so. Tscherkessen, Lasen, Juden und Kurden sind nur Flüchtlinge in diesem Land!«

»Natürlich gibt es in der Türkei heute Antisemitismus. Wer dies abstreitet, der lügt«, sagt der Chefredakteur der türkisch-jüdischen Zeitung »Salom« und Berater des Oberrabbiners der Türkei, Ivo Molinas, im Gespräch in einem schicken Café in Nisantasi, einem modernen, säkularen Viertel Istanbuls. »Alles, was manchen Leuten zuwider ist – Musik, Kunst oder eine Lebensart – wird zur ›jüdischen Musik‹ oder zur ›jüdischen Kunst‹ gemacht«, so Molinas. »Es findet eine Dämonisierung statt.«

Zu den üblichen antisemitischen Verschwörungstheorien gehört auch in der Türkei, dass Juden im Geheimen »die Fäden ziehen«. Dabei ist die jüdische Gemeinschaft im Land wirtschaftlich und politisch nahezu ohne Bedeutung. Vielmehr gehört sie einer intellektuellen Mittelschicht an, die bereits in den 50er-Jahren durch die Türkisierungspolitik aufgrund von hohen Steuern einen Großteil ihres Vermögens abgeben musste.

Dennoch geraten die wenigen bedeutenden jüdisch-türkischen Geschäftsmänner wie Cem Hakko, dem die bekannte Textilmarke »Vakko« gehört, oder der Vorstandsvorsitzende Ishak Alaton der Alarko-Unternehmensgruppe immer wieder ins Visier der türkischen Justiz. Hakko wurde 2007 vorgeworfen, mit Äußerungen auf einer Privatveranstaltung das Türkentum beleidigt zu haben. Er bestritt das. Erst jüngst wurde bekannt, dass bereits seit einem Jahr staatsanwaltschaftliche Ermittlungen gegen den 88-jährigen Alaton laufen. Man wirft ihm vor, er habe die Gülen-Bewegung finanziell unterstützt, die versucht haben soll, die türkische Regierung zu stürzen.

Der Journalist Yavuz Baydar bezeichnete in seiner Kolumne in der Tageszeitung »Birgün« die Ermittlungen gegen Alaton als »absurd«. Er sieht sie im Zusammenhang mit den besorgniserregenden Entwicklungen in der Türkei, bei denen Recht und Gesetz dafür missbraucht werden, die Opposition zum Schweigen zu bringen.

Jüdisches Leben in der Türkei blickt auf eine lange Geschichte zurück. Die Wurzeln der meisten türkisch-jüdischen Familien liegen in Spanien. Ihre Vorfahren flohen im 15. Jahrhundert vor der Inquisition. Sie wollten sich nicht zwingen lassen, zum Christentum überzutreten und suchten daher Schutz und Zuflucht im Osmanischen Reich. Das multikulturelle islamische Imperium gewährte Juden, wie auch anderen religiösen Minderheiten, Religionsfreiheit – allerdings unter besonderen Steuerleistungen.

Noch heute entdeckt man in Istanbul die Spuren jüdischen Lebens, zum Beispiel, wenn man im europäischen Stadtteil Beyoglu als Tourist auf die rote Straßenbahn aufsteigen möchte. Ihr Vorgänger, eine Pferdestraßenbahn, wurde im 19. Jahrhundert von der bekannten jüdischen Bankiersfamilie Camondo nach Istanbul gebracht. Die Camondos prägten neben anderen jüdischen Kunst- und Kulturliebhabern das Stadtbild in den Vierteln Galata und Pera mit eindrucksvollen Bauten. Und es war auch die Camondo-Familie, die das erste Gemeindewesen nach dem französischen Vorbild in Beyoglu einführte und dadurch stark zur Modernisierung der Stadt beitrug.

Am Galata-Turm im Istanbuler Stadtteil Bevoglu tummeln sich heute zahlreiche Touristen. Sie essen anatolische Vorspeisen, trinken italienischen Kaffee und machen Selfies. Nur wenige wissen, dass sich nur ein paar Schritte entfernt die Neve-Shalom-Synagoge befindet.

Sicherheit Ein spontaner Besuch ist nicht möglich, denn in allen Synagogen Istanbuls herrschen strenge Sicherheitsvorkehrungen. Gäste müssen sich zuerst eine Besuchserlaubnis bei der jüdischen Gemeinde holen.

Das ist durchaus verständlich, denn die Neve-Shalom-Synagoge hat seit ihrer Eröffnung 1951 bereits drei Anschläge erlebt, bei denen Dutzende Menschen ums Leben kamen: Bei einem Attentat palästinensischer Terroristen wurden 1986 während des Gebets 25 Menschen getötet. Sechs Jahre später konnten die Sicherheitskräfte einen weiteren Anschlag verhindern. Nicht so 2003, als bei einer Serie von Anschlägen auch die Neve-Shalom-Synagoge zum Tatort wurde und sechs Gemeindemitglieder ums Leben kamen.

Wenn in der Synagoge eine Hochzeit oder Barmizwa gefeiert wird, sperrt man die Straße ab. Schick gekleidete Frauen und Männer kommen dann aus der Syna-goge, gehen rasch an den muslimischen Ladenbesitzern und dem benachbarten Kaffeehaus vorbei, in dem einige Männer sitzen und Tee trinken. Die Gemeindemitglieder steigen zügig in ihre Autos. Man spürt, dass ihnen unbehaglich zumute ist.

»Wir sind immer in Alarmbereitschaft«, sagt Ivo Molinas. Mit welcher Sorge um die eigene Sicherheit die Gemeinde lebt, bekommen die meisten Nichtjuden nur selten mit. Muslime, die einen jüdischen Partner heiraten, erfahren oft erst in der Ehe, dass es in der Türkei Antisemitismus gibt.

So sagt eine muslimische Journalistin, die mit einem Juden verheiratet ist und nicht möchte, dass ihr Name in der Zeittung steht: »Meine erste Erfahrung mit der Angst vor Antisemitismus habe ich gemacht, als ich bei einer Reise nach London in einem Fenster einen Chanukkaleuchter sah und meinem Mann vorschlug, so etwas doch auch bei uns zu Hause aufzustellen. Mein Mann wehrte sich dagegen. Er meinte, dann wüssten ja die Nachbarn, dass wir Juden sind.«

Sie habe seitdem immer wieder gesehen, dass Juden in der Türkei ihre Identität verbergen, um ja nicht aufzufallen, sagt die Frau.

Interesse Trotz alledem ist in den vergangenen Jahren das Interesse der Mehrheitsgesellschaft am jüdischen Leben gewachsen. Vor allem durch den Internetauf- tritt der türkisch-jüdischen Wochenzeitung »Salom« erhalten auch Christen und Muslime Einblick in die jüdische Welt. Rund 90 Prozent der Leser seien keine Juden, sagt Chefredakteur Molinas. Viele Drohungen und Beleidigungen würden an die Zeitung gerichtet, aber auch Kommentare wie »Ich kannte euch vorher nicht, ihr seid ja normale Menschen wie wir! Ihr trauert auch und feiert. Man hat uns Falsches über euch erzählt. Dank Allah, dem Internet und dank ›Salom‹ haben wir das Judentum kennengelernt.« Viele Muslime seien neugierig geworden, sagt Chefredakteur Molinas. Vor allem nach dem Vorfall mit der »Mavi Marmara« sei das Interesse am Judentum deutlich gestiegen.

Für die israelisch-türkischen Beziehungen war die »Mavi Marmara« ein Desaster. Damals, im Mai 2010, durchbrach eine türkische Hilfsflotte die Gaza-Blockade, und israelische Soldaten stürmten das Schiff. Dabei kamen zehn Türken ums Leben.

Zuvor hatten die Türkei und Israel jahrzehntelang stabile Beziehungen unterhalten. Als erstes muslimisches Land erkannte die Türkei den Staat Israel an, und seit 1996 wurden die militärischen und wirtschaftlichen Kooperationen verstärkt. Doch der Fall »Mavi Marmara« war ein Wendepunkt im Verhältnis zwischen der Türkei und Israel. Und nicht nur das. Er bedrohte auch die Sicherheit der Juden im Land.

»Bei dem Vorfall mit der ›Mavi Marmara‹ haben wir als jüdische Gemeinschaft unser größtes Trauma erlebt, denn es hätte durchaus sein können, dass man uns am nächsten Tag vielleicht gar nicht mehr im Land duldet«, sagt Molinas. Die AKP-Regierung habe die Krise jedoch vernünftig bewältigt, indem sie die Drohungen gegen die Gemeinde gestoppt und sich hinter ihre jüdischen Bürger gestellt habe, so Molinas.

Dennoch schreckt die AKP nicht vor israelfeindlichen Äußerungen zurück – auch, um von der Verantwortung der Regierung für innenpolitische Missstände abzulenken. So wirft Präsident Recep Tayyip Erdogan Israel immer wieder »Staatsterror« vor und beschimpfte im Mai 2014 nach dem tragischen Minenunglück in Soma einen Demonstranten als »israelische Brut«.

Widersprüche Die Haltung des Staates gegenüber der jüdischen Gemeinde im Land bleibt widersprüchlich. So finanzierte die Regierung die Restaurierung der Großen Synagoge von Edirne mit mehr als zwei Millionen Euro und eröffnete das Bethaus Anfang 2015 mit einer staatlichen Zeremonie – ein historisches Ereignis in der Türkei.

Die jüdische Gemeinschaft habe heute sehr gute Beziehungen zur AKP-Regierung, sagt Molinas. Aber auch er wundert sich: Denn die Regierung schaut tatenlos zu, wie regierungsnahe Zeitungen volksverhetzende Äußerungen veröffentlichen. Molinas spricht von einem »erschreckenden Antisemitismus«, der zwar in der Türkei immer existiert habe, aber heute sichtbarer sei denn je.

Bereits 1934, in den Anfangsjahren der türkischen Republik, kam es in Edirne und Canakkale zu Pogromen gegen Juden. Auch die »September-Vorfälle« von 1955, die vor allem griechisch-orthodoxen Christen in Istanbul, Izmir und Ankara galten, waren traumatische Erlebnisse, denen ebenfalls Juden zum Opfer fielen. Ein Großteil der Gemeindemitglieder wanderte damals aus.

Vor der Gründung des Staates Israel lebten in der Türkei mehr als 120.000 Juden. Seitdem ist die Zahl deutlich geschrumpft. Inzwischen verlassen jedes Jahr rund 150 vor allem junge Juden das Land. Sie sehen in der Türkei keine Perspektive mehr.

»Wir wollen keine Sonderrechte, sondern als gleichwertige Bürger dieses Landes respektiert werden«, unterstreicht Molinas, der sich selbst durchaus als Türke bezeichnet. Seine jüdische Identität, sagt er, empfinde er eher als eine kulturelle. Ja, er fühle sich Israel mit dem Herzen verbunden, sagt er. Doch nach Israel auszuwandern, nein, daran denke er nicht.

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