Redezeit

»Das Klavier hat meinen Geist gerettet«

Der Pianist Menahem Pressler über den Echo-Preis, die Liebe zur Musik und Lernen im Alter

von Christine Schmitt  09.10.2015 17:54 Uhr

Menahem Pressler Foto: Marco Borggreve

Der Pianist Menahem Pressler über den Echo-Preis, die Liebe zur Musik und Lernen im Alter

von Christine Schmitt  09.10.2015 17:54 Uhr

Herr Pressler, was werden Sie am Sonntag im Berliner Konzerthaus bei der Echo-Klassik-Verleihung spielen?
Soll ich es verraten? Ich sage Ihnen den Namen des Komponisten, es ist Chopin.

Sie werden im Dezember 92 Jahre alt. Am Sonntag erhalten Sie den Echo für Ihr Lebenswerk. Herzlichen Glückwunsch! Mit 90 gaben Sie Ihr Solodebüt mit den Berliner Philharmonikern und später das Silvesterkonzert mit ihnen. Sind Sie nun auf dem Höhepunkt Ihrer Karriere angekommen?
Ich würde sagen, ja. Ich dachte bisher immer, der Höhepunkt sei mein Debüt mit den Philharmonikern. Es war mein Ziel, einmal in meinem Leben mit ihnen zu konzertieren.

Warum?
Das Orchester ist das Schönste, was man sich vorstellen kann. Beim Silvesterkonzert haben sie mit so viel Hingabe gespielt. Als ich es hörte, musste ich weinen. Ich wusste nicht, dass sie mit einer derartigen Liebe der Musik und auch mir begegnen.

Bei Ihrem Solodebüt vor eineinhalb Jahren gab es sogar Standing Ovations ...
Man sagte mir, dass das Publikum nur aufstand, als Karajan noch dirigierte. Natürlich war ich glücklich.

Sie sind in Magdeburg aufgewachsen, wo Ihr Vater Herrenausstatter war.
Ja, er wurde berühmt als Hosen-Pressler. Als ich klein war, hat man mich immer gefragt, ob ich der Sohn sei. Als ich berühmt wurde, wurde er gefragt: »Ist das dein Sohn, der Pianist?«

Mit Ihren Eltern und Geschwistern glückte Ihnen 1938 über Italien die Emigration nach Palästina. Können Sie sich noch an die ersten Tage erinnern?
Ja, ganz genau. Es war sehr schwer. Ich musste Geld verdienen und fuhr für ein Lebensmittelgeschäft Ware mit einem Fahrrad aus. Viel schwerwiegender war aber, dass ich nichts essen konnte. Mein Vater verstand das gar nicht. Ich ja auch nicht. Ich war traumatisiert. Der Einzige, der Verständnis aufbrachte und sich um mich kümmerte, war mein Klavierlehrer. Aus Schwäche bin ich in einer Stunde bei einer Beethoven-Sonate ohnmächtig geworden. Erst langsam konnte ich es überwinden.

1946 reisten Sie wegen des Debussy-Wettbewerbs in die USA, wo Sie heute noch überwiegend leben, und gewannen.
Gott hat seine Hand über mich gehalten. Ich las von dem Wettbewerb in Israel in der Zeitung und hatte Glück, dass mir ein ausgezeichneter Pianist sechs Stunden gab, denn bis dahin kannte ich Debussy überhaupt nicht. Diesen Preis hätte ich nie ohne seine Hilfe bekommen.

Was hat Sie zum Klavier gebracht?
Das war Zufall. Begonnen hatte ich mit der Geige, die mein Vater übrigens miserabel spielte. Also wollte ich auch Violine lernen. Mein Bruder sollte Klavier-Unterricht nehmen. Aber jedes Mal, wenn der Lehrer kam, war er müde. Und so nahm ich die Stunden und machte schnell Fortschritte.

Das Instrument wurde ihr Lebensbegleiter.
Ja, das ist es immer noch. Nur wenn ich krank bin, spiele ich nicht. Auch ins Hotel lasse ich mir ein Klavier kommen. Es hat meinen Geist gerettet und meinem Leben einen Sinn gegeben.

Gibt es Literatur, die Sie noch überraschen kann?
Ja, bestimmte moderne Werke, die ich nicht gelernt habe. Obwohl ich mich mit modernen Werken immer befasst habe, denn mein Trio hat pro Jahr ein Stück eines lebenden Komponisten einstudiert. Jüngst kam zu meinem Repertoire auch Bekanntes wie Schuberts »Winterreise« hinzu, mit dem Tenor Christoph Prégardien. Ich war fast 90 und musste das Ganze neu einstudieren.

In London gaben Sie ein Konzert mit Schumanns »Dichterliebe«.
Der Bariton Matthias Goerne rief mich eines Tages an und bat mich, mit ihm zu musizieren. Da sagte ich, dass ich sein Repertoire doch gar nicht kenne. »Aber Sie können es doch lernen!«, meinte er. Da war ich 91 Jahre alt. Es war sehr schwierig für mich, die »Dichterliebe« einzustudieren. Aber es bereicherte meine Seele. Die Kritiken waren sehr gut – und keiner hat bemerkt, wie schwer es mir gefallen war, weil ich zuvor auch noch lange krank gewesen war.

Im Jahr 1955 gründeten Sie das Beaux Arts Trio, das sich nach zig Schallplattenaufnahmen und unzähligen Konzerten vor einigen Jahren auflöste.
Es war mein zweites Trio, denn es gab schon eines in Israel. Der Cellist war der Sohn von Golda Meir. Jedes Wochenende fuhren wir zum Schabbat in einen Kibbuz, um Geld zu verdienen.

Fehlt Ihnen das Trio?
Natürlich. Es ist mir ans Herz gewachsen. Es ist so, als wenn Sie mich fragen würden, ob mir meine Frau fehlt, die vor einigen Monaten gestorben ist. Sie fehlt mir sehr. Aber man muss lernen, zu verzichten und sich an dem zu erfreuen, was das Leben zu bieten hat.

Der verstorbene Geiger Isaac Stern gelobte, in Deutschland keine Konzerte geben zu wollen. Sie sehen das anscheinend anders.
Meine Einstellung unterscheidet sich von der seinen, und zwar aus dem Grund, dass meine Frau, die Israelin war, es mir gestattete. Allerdings nur unter der Bedingung, dass ich das Geld, das ich in Deutschland verdiene, Israel schenke. Eine großartige Idee! Man darf nie vergessen, dass ich Jude bin und die Schoa nicht vergesse. Ich bin am Leben geblieben, ich bin nicht in den Ofen gekommen. Ich muss dem Land dankbar sein, das mir die Erziehung und den Glauben an die Menschheit zurückgab.

Sie unterrichten, geben Meisterkurse, gehören Jurys an und konzertieren. Welche Ziele haben Sie in nächster Zukunft?
Man kann sich eine größere Karriere nicht vorstellen – in keinem Alter. Als ich das Trio aufgab, hätte ich mir nie träumen lassen, dass ich so eine Karriere beginnen könnte. Und doch ist es geschehen. Das macht mich glücklich. Meine Finger funktionieren nur bei meinem Handy nicht.

Mit dem Musiker sprach Christine Schmitt.

Die Verleihung des Echo Klassik wird am Sonntag, den 18. Oktober, um 22 Uhr im ZDF ausgestrahlt. Am Dienstag, den 27. Oktober, spielt Menahem Pressler mit der Sächsischen Staatskapelle Dresden unter der Leitung von Christian Thielemann das Mozart-Klavierkonzert B-Dur KV 595.

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