Theologie

Das 614. Gebot

Die Schoa ist für Überlebende wie Nachgeborene außer einem existenziellen Trauma auch eine schwere religiöse, theologische und philosophische Herausforderung. Kann man nach dem millionenfachen Mord an den europäischen Juden noch von Gott reden? Hat es noch Sinn, das Judentum, das anscheinend nur Leiden bereithält, am Leben zu erhalten?

Die orthodoxen Denker wenden als Antwort auf diese Fragen die rabbinische Formel an, die bis heute ein Teil der synagogalen Gebetsliturgie ist: »Mipne chatta’enu ...« (»Um unsrer Sünden willen sind wir ins Exil gezogen und wurden aus unserem Land vertrieben.«) Laut diesem Denken reiht sich die Schoa in die lange Kette der jüdischen Verfolgungen ein und hebt sich allenfalls quantitativ von ihnen ab.

Opferbindung Demnach ist es sogar denkbar, diesen Genozid als Akeda, also gleich der Opferbindung Isaaks zu verstehen, wodurch auch die Bezeichnung Holocaust, wörtlich für »Ganzopfer«, gerechtfertigt erscheint – und darin den Willen Gottes zu erkennen. Diese Gebetsformel von den Sünden Israels ist seit der Zerstörung des Zweiten Tempels im Jahr 70 der Zeitrechnung die Magna Charta des jüdischen Selbstverständnisses, das jüdisches Leben als Exilsdasein definiert bis zu einer erneuten himmlischen Intervention, nämlich der Ankunft des Messias.

Doch vielen religiösen jüdischen Denkern erschien die Anwendung dieser alten rabbinischen Formel auf die Schoa, vor allem angesichts der zahllosen unschuldigen ermordeten Kinder, nicht mehr tragfähig und eine Verhöhnung der Opfer. Wollten sie dennoch ihren Glauben an den Gott ihrer Väter nicht aufgeben, suchten sie nach anderen Deutungsmustern. Eines war die schon von Martin Buber aufgegriffene biblische Vorstellung, dass Gott für eine gewisse Zeit das Angesicht vor seinem Volk verbirgt und zu dessen Bestrafung oder Versuchung die Leiden zuließ.

Wie aber sollte man noch angesichts von Auschwitz an einen Gott glauben, der solches nicht verhinderte? Da konnte auch die orthodoxe Schuldzuweisung des Verfalls an die Emanzipation und Assimilation der europäischen Juden nicht helfen, wo doch gerade der traditionell frömmste und orthodoxe Teil des europäischen Judentums im Osten den höchsten Blutzoll zu zahlen hatte.

THEODIZEE All diese Deutungen versuchen, diesem unsäglichen Leid und Verbrechen dennoch irgendeinen Sinn abzugewinnen, um es erträglicher zu machen. Religiös gesprochen hieß das, einen Gott zu rechtfertigen, der solches geschehen lassen konnte – es ist also die alte Frage der Theodizee.

Wo man es ablehnte, der Schoa auch noch den geringsten Anschein eines Sinns abzugewinnen, scheint nur noch eine Konsequenz geblieben zu sein, die der amerikanisch-jüdische Theologe Richard L. Rubenstein gezogen hat, der den Tod Gottes verkündete.

Allerdings präzisiert Rubenstein, der dennoch ein religiöser Jude bleiben wollte, dass mit dem Tod Gottes nicht das Ende jeglicher Gottesvorstellung gemeint sei. Vielmehr sieht er in dieser Formel nur den Abschied vom Glauben an einen Gott als Herrn der Geschichte, welcher die Geschicke der Menschen und Völker lenkt.

Damit ist allerdings ein zentraler Glaubenssatz des Judentums umgestoßen. Und es bleibt die Frage, wozu man noch an einen Gott glauben sollte, der sich vom Weltgeschehen vollkommen fern hält.

Ein anderer Ausweg aus dem durch die Schoa gestellten Glaubensdilemma ist es, den Glauben des Menschen selbst zu hinterfragen, das heißt zu fragen, ob wir nicht einen falschen Glauben von Gott und seiner Präsenz in dieser Welt haben.

Der deutsche Philosoph und liberale Rabbiner Emil L. Fackenheim, und ähnlich auch der orthodoxe amerikanische Rabbiner Irving J. Greenberg, unternahmen den Versuch, die verloren gegangene Theodizee durch eine neue Lehre vom Glauben zu ersetzen. Sie fragten sich, was man angesichts der Schoa tun könne, um dennoch ein gläubiger Mensch zu bleiben. Denn der Glaube an einen geschichtslenkenden Gott war ja angesichts des Geschehenen offensichtlich ein falscher Glaube.

Fackenheim formulierte den Gedanken, wonach Gott nur dank des menschlichen Glaubens in der Welt präsent, nicht aber wissenschaftlich nachweisbar ist. Der Mensch erlebt demnach lauter alltägliche Dinge in ihrer ganzen Zwei- oder Vieldeutigkeit und glaubt dann entgegen dieser Widersprüchlichkeit, er habe hier Gott wahrgenommen – so sei dies schon bei der Durchquerung des Schilfmeeres gewesen und hernach auch am Sinai. Am Schilfmeer habe die Glaubensdeutung Gottes rettendes Handeln gesehen, am Sinai dagegen dessen Gebote gehört.

Ähnlich müsse ein Jude auch die Schoa betrachten, in der er natürlich kein Rettungshandeln Gottes sehen, wohl aber dessen Gebotsstimme hören könne. Dem hörenden Glauben Fackenheims ergab sich daraus ein 614. Gebot, das den traditionellen 613 Geboten der Tora hinzugefügt werden müsse. Dieses Gebot lautet: »Den Juden ist es verboten, Hitler posthume Siege zu verschaffen. Es ist ihnen geboten, als Juden zu überleben, damit das jüdische Volk nicht untergeht.«

Mit der Benennung dieses Gebotes als sechshundertvierzehntes ist angezeigt, dass hier eine über die traditionelle Tora hinausgehende neue Ära des Judentums eingeläutet ist. So soll zum Beispiel statt des traditionellen Gebotes zum Kiddusch ha-Schem, also der Heiligung des Gottesnamens im Martyrium, nun an erste Stelle das Gebot des Kiddusch ha-Hachaim, die Heiligung des Lebens, treten.

Jüdisches Leben per se ist nun ein Wert an sich, der an vorderster Stelle steht. Authentisches Judentum ist nicht mehr die Hingabe an das Traditionsgesetz, sondern das Deuten der realen Weltsituation im Dienste der Erhaltung des jüdischen Lebens als jüdisches Leben.

Dritte Epoche Auch Greenberg fordert neue Formen des Glaubens, die sich nicht mehr an den festen Vorgaben der Tradition, sondern an den Bedürfnissen der neuen, der dritten Epoche des Judentums orientieren. Nachdem nämlich durch die Tempelzerstörung die biblische Epoche des Judentums zu Ende gegangen ist und die rabbinische Deutung das Exiljudentum hervorbrachte, ist nach der Schoa und mit der Gründung des jüdischen Staates die dritte Epoche des Judentums angebrochen, die nun ebenfalls einer grundlegenden Neudeutung bedürfe.

Viele der heutigen Juden können nach der Schoa allerdings mit einer religiösen Deutung des Judentums nichts mehr anfangen, wiewohl sie dennoch ihr Judentum erhalten wollen. Für sie boten eine Reihe jüdischer Denker völlig säkulare, philosophische oder historisch-soziologische Deutungen der Schoa an.

Hierfür ist Emil L. Fackenheim ebenfalls die herausragende Gestalt, wiewohl auch Hans Jonas und Emmanuel Lévinas philosophische Deutungsversuche unternahmen. Fackenheim erörtert das Problem, wie man nach der Schoa als säkularer Jude ein authentisch jüdisches Leben führen, das Judesein und -bleiben begründen könne. Er sieht die Problematik, dass die nach der Schoa geborenen Juden in ihrem jüdischen Bewusstsein die Schoa nicht wirklich weitertragen können, weil man sich als Nachgeborener in das Geschehene nicht authentisch hineinversetzen kann.

Andererseits seien jüdisches Bewusstsein und jüdische Identität ohne die Schoa nicht mehr denkbar. Um dies deutlich zu machen, beantwortet Fackenheim die notorische Frage: »Was ist ein Jude? Wer ist ein Jude?« einmal so: »Ein Jude ist heutzutage jemand, der, außer dank eines historischen Zufalls – nämlich Hitlers Niederlage im Krieg –, entweder ermordet oder erst gar nicht geboren worden wäre.«

Wie also kann man dem Dilemma entrinnen, die Schoa im Bewusstsein tragen zu müssen, dies andererseits aber nicht wirklich zu können?

Die Antwort findet Fackenheim in den Berichten Überlebender aus der Zeit der Schoa. Er sieht dort, dass jüdisches Leben in den Todeslagern sich letztlich nur noch als Widerstand gegen die Tötungsabsicht und den Tötungsvollzug der Naziverbrecher äußern konnte. Und dieses geschah in Form der Aufrechterhaltung der jüdischen Menschenwürde und des Versuchs, sich diese nicht brechen und rauben zu lassen.

Damit ist inmitten der Vernichtung eine Äußerungsform des Jüdischseins und Jüdischsein-Wollens entstanden und aufgezeigt worden, die Fackenheim als wesenhafte jüdische Lebensmöglichkeit erachtet. Dieser Widerstand hat der Vernichtung aller Werte einen Wert entgegengesetzt, der auch nach der Schoa den Nachgeborenen als jüdische Lebensmöglichkeit gegeben ist. Letztlich kommt Fackenheim damit zu einer säkularen Form seines 614. Gebotes.

Was gehört nun zu dieser Form des Widerstands als authentische jüdische Lebensmöglichkeit? Zentral hierfür ist die jüdische Selbstbehauptung. Und deshalb ist die Begründung und Erhaltung eines jüdischen Staates nach 2000 Jahren einer der wichtigsten Eckpfeiler für ein authentisches jüdisches Bewusstsein, auch für das Diasporajudentum.

Verantwortung Dies sehen auch religiöse Konzepte so. Der orthodoxe Rabbiner Irving J. Greenberg sieht in den drei Epochen der jüdischen Geschichte einen voranschreitenden Rückzug Gottes in die Verborgenheit und komplementär dazu eine sich verstärkende Verantwortung des Menschen für die Welt. Letzteres erkennt er an den sich verändernden sozialen Gliederungen des jüdischen Volkes und einer nachlassenden Sakralisierung des jüdischen Lebens zugunsten seiner Säkularisierung.

Auch hierbei spielt die Staatsgründung Israels eine zentrale Rolle: »Die entscheidenste Veränderung in der Lage der Juden und im Wechsel des Fokus vom Sakralen zum Säkularen ist der Schritt von der Machtlosigkeit zur Macht. Die Schaffung des (Staates) Israel ist ein Akt der Wiederherstellung und Erlösung und die Bestätigung des Bundes durch eine weltliche Leistung.«

Der Autor ist Judaist und Religionswissenschaftler.

Vor Kurzem erschien von ihm das Buch: »Jüdisches Denken. Theologie, Philosophie, Mystik. Band 4, Zionismus und Schoah«, Campus, Frankfurt am Main 2015, 660 S., 78 €

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