Stilikone

Das älteste Covergirl der Welt

Die New Yorkerin Iris Apfel ist 93 – und ein Mode-Vorbild für viele jüngere Frauen

von Sebastian Moll  03.08.2015 18:04 Uhr

Iris Apfel gilt als Mode-Rebellin – und als Lady Gaga ihrer Altersklasse. Foto: imago

Die New Yorkerin Iris Apfel ist 93 – und ein Mode-Vorbild für viele jüngere Frauen

von Sebastian Moll  03.08.2015 18:04 Uhr

Iris Apfel verschlug es die Sprache. Sie hatte einen riesigen Kloß im Hals, während sie auf der Bühne des Lincoln Center den minutenlangen Applaus des ausverkauften Auditoriums entgegennahm. »Ich kann das alles nicht so richtig begreifen«, stotterte die 93-Jährige zaghaft, nachdem das Publikum wieder saß und sie sich ein wenig beruhigt hatte.

Das war bei der Premiere eines Dokumentarfilms über sie selbst, die Stil-Ikone Iris Apfel beim New Yorker Filmfestival im vergangenen Herbst – einer der Hauptfilme des Wettbewerbs. Der Regisseur war der 89 Jahre alte Albert Maysles, seit den 60er-Jahren ein großer Meister des Dokumentarfilms. Maysles hatte sich bereits den Rolling Stones und den Beatles, Muhammad Ali und Orson Welles gewidmet. Und dann, auf seine alten Tage, Iris Apfel.

»Als Albert mich angerufen hat«, sagt Apfel, die mit ihrer türkisblauen Federboa, ihrem engen Hosenanzug und ihrer ikonischen Eulenbrille so glamourös aussieht wie immer, »habe ich mich nur gefragt, warum zum Teufel er denn über mich einen Film drehen möchte. Er hat doch so viele Filme zu wirklich wichtigen Themen gemacht.« Man nimmt Iris Apfel die Bescheidenheit ab, die Ungläubigkeit darüber, dass um sie ein derart großes Aufheben gemacht wird. Aber man kann auch verstehen, warum sie für den Filmemacher als Sujet unwiderstehlich war.

Ausstrahlung Maysles’ vielleicht berühmtester Film, Grey Gardens von 1975, drehte sich um die exzentrische Mode-Ikone Edie Beale, die mit Schwester und Tochter in einer verwahrlosten Villa auf Long Island lebte. In Iris Apfel fand Maysles kurz vor seinem Tod im Frühjahr 2015 erneut eine dankbare Hauptperson, »die mit ihrer Ausstrahlung ganz alleine problemlos 90 Minuten trägt«, wie der Regisseur sagte.

Iris Apfel ist ein Unikum, ein Phänomen. Sie selbst nennt sich »das älteste Covergirl der Welt«. Damit könnte sie recht haben. Doch trotz ihres Alters ist sie ein Darling der Modewelt, eine Stil-Macherin und eine Inspiration für andere Frauen – egal, ob sie 17 oder 97 Jahre alt sind.

Ein Star ist Iris Apfel erst vor knapp zehn Jahren geworden, mit weit über 80. Bis dahin führte sie ein relativ ruhiges Dasein. Das Geschäft als Innenausstatterin der Oberen Zehntausend, das sie ein Leben lang mit ihrem Mann geführt hatte, war schon seit 13 Jahren verkauft. Das charmante ältere Paar vertrieb sich die Zeit mit Reisen und mit dem Besuch von Events der New Yorker Gesellschaft, wo sein Auftritt immer ein Hit war. Vor allem aber genossen die beiden die feineren Dinge des Lebens – gutes Essen, Kunst, Konzerte.

Kleiderschrank Doch dann klopfte eines Tages Harold Korda bei ihr an, Direktor der Modeabteilung des Metropolitan Museum und ein Freund der Familie. Korda bereitete eine Ausstellung über Accessoires vor, und da Iris Apfel in der New Yorker Gesellschaft dafür bekannt war, mit einem Tuch oder einem Armreif ein Kleid vom Wühltisch galareif machen zu können, bat er sie um Rat.

Als die beiden dann begannen, Iris Apfels Kleiderschrank zu durchwühlen, gab es kein Halten mehr. Korda konnte nicht genug von ihrer Garderobe bekommen und entschloss sich, ihr alleine eine Ausstellung zu widmen. Keine Verneigung vor einem berühmten Designer wie Alexander McQueen oder Gianni Versace, sondern alleine vor der modischen Sensibilität einer einzigen Privatperson. Es war ein Wagnis, ein Experiment, doch die Show war ein Hit. Die Kritiker überschlugen sich vor Lob, und die Besucher strömten in Massen in die Galerien, um die gewagten, witzigen und immer originellen Kombinationen zu bewundern, die sich Apfel über die Jahrzehnte ganz allein zu ihrem eigenen Vergnügen ausgedacht hatte.

Iris Apfel wurde über Nacht zur Kultfigur. »Ich muss wohl irgendwie einen Nerv getroffen haben«, sagt sie lapidar, in ihrem breiten New Yorker Dialekt. Es sind wenige Wochen seit der Premiere vergangen, und wir sitzen in ihrer Wohnung an der Park Avenue beim Tee. Das Apartment ist mindestens ebenso verspielt wie Iris Apfels Garderobe. Das Wohnzimmer wirkt wie eine Mischung aus Flohmarkt und Völkerkundemuseum, auf dem Boudoir steht eine Sammlung indianischer Figuren, die Stehlampen mit Schirmen aus Brokat und Seide sind kaum zu zählen, und mit den Sesseln, jeder ein Einzelstück, könnte man eine komplette Design-Ausstellung bestreiten.

Kult So ganz versteht Apfel nicht, was irgendwer an ihr interessant finden könnte. Das, was andere als ihre »Kollektion« bezeichnen, nennt sie einfach nur ihre Rumpelkammer: »Ich hab’ das doch alles nur aus Spaß gekauft und zusammengestellt.« Dass andere daraus einen Kult gemacht haben, dass es Modeexperten gibt, die ihre Kombinationen aus den verschiedensten Ländern und Epochen studieren, findet sie einfach nur kurios.

Harold Korda ist unterdessen nicht im Geringsten überrascht, dass Iris Apfel dermaßen eingeschlagen hat: »Es gibt in der amerikanischen Psyche eine Neigung dazu, Konventionen zu missachten und Regeln zu brechen«, sagt er. »Die Art und Weise, wie Iris einen Stella-Forest-Pelz mit einem afrikanischen Wandbehang kombiniert, oder ein Bill-Blass-Jackett mit einem indianischen Tanzrock, ist typisch für den verschlagenen Witz und die ununterdrückbare Bravour des amerikanischen Stils in seiner fantasievollsten Ausprägung.« Für Korda ist Apfels verspielter und wonnevoller Eklektizismus nichts Geringeres als ein Beleg für die schöpferische Kraft des amerikanischen Individuums.

Iris Apfel ist eine Moderebellin – die Lady Gaga ihrer Altersklasse. Bei der Zusammenstellung ihrer Garderobe kennt sie nur eine einzige Regel: Es muss ihr Spaß machen. »Ich bin beim Einkaufen eine hoffnungslose Romantikerin«, sagt sie. »Es muss etwas in mir auslösen, ich brauche eine körperliche Reaktion.« Sonst interessiert es sie nicht.

Auf solche Reaktionen stieß sie vor allem auf den vielen Reisen, die sie gemeinsam mit ihrem Mann unternahm: als die beiden um die Welt jetteten, um für die Polster, die Teppiche und die Vorhänge ihrer Kunden neue Stoffe zu finden. Es konnte ein Armreif auf einem Markt in Bhutan sein oder eine goldbesetzte Jacke in einem marokkanischen Souk. Es konnte ein Halstuch an einem Straßenstand in Venedig sein oder eine Navajo-Decke in New Mexico. Oder aber auch ein Pullover im Ausverkauf im Discount-Laden Loehmann’s am Broadway.

Chanel-kostüm Was bei ihr jedoch nie etwas auslöste, war ein Chanel-Kostüm. »Warum soll ich Tausende von Dollar dafür ausgeben, um so auszusehen wie alle anderen?«, sagt die 93-Jährige in ihrer staubtrockenen New Yorker Art. Ende der Diskussion.

Ein Look von der Stange, selbst wenn es Chanel ist, ist für Iris Apfel der Feind jeglichen Stils. Mode ist für sie eine Feier des Individuellen, der einzigartigen Persönlichkeit. »Der größte Fehler, den eine Frau machen kann«, findet sie, »ist es, in den Spiegel zu schauen und sich nicht wiederzuerkennen.« Doch Individualität kann man nicht kaufen. »Es ist harte Arbeit. Man muss sich genau fragen, was einem gefällt und was nicht.« Aber keinen Stil zu entwickeln, bedeutet für Iris Apfel, nicht gelebt zu haben. Es ist schlicht keine Option.

Wenn Apfel beispielsweise an die heutige Alltagsmode denkt, dann überkommt sie der reine Abscheu: »Ich habe das Gefühl, dass das mit dem Zwanglosen etwas zu weit getrieben wird.« Im Sommer etwa mag sie gar nicht mehr auf die Fifth Avenue gehen, wo man in den 50er- und 60er-Jahren die elegantesten Damen der Welt beobachten konnte. Wenn sie dort heute fette Touristen in kurzen Hosen und Badeschlappen sieht, »dann wird mir übel. Dagegen sollte es ein Gesetz geben.« Zu ihrer Zeit hätte man sich niemals getraut, so auf die Straße zu gehen.

star Wenn Iris Apfel so redet, dann wird klar, warum sie ein Star ist. Sie traut sich, eine dezidierte Meinung zu haben. Sie weiß genau, was sie mag und was sie nicht mag. Und sie ermutigt Frauen aller Altersklassen, sich auch ein Urteil zuzutrauen. Immer wieder, erzählt Apfel, kämen Frauen auf sie zu, um ihr zu sagen, wie dankbar sie ihr sind. Dankbar, dass sie sie vom Diktat der Modehefte befreit hat, vom Zwang, dem Look der Saison zu entsprechen. Iris Apfel macht ihnen Mut, auf sich selbst zu hören, Mut, auch einmal Fehler zu machen: »Die Modepolizei wird einen ja nicht gleich ins Gefängnis stecken.« Und vor allem den Mut zur Lust am Kostüm und an der Fantasie, am Ausprobieren und Verkleiden.

Darüber, woher sie selbst diese Lust hat, kann sie auch nur spekulieren. Von der Mutter, die eine Modeboutique hatte, oder dem Vater, der gehobene Wohnquartiere im New York der 30er-Jahre mit Spiegeln und Fensterglas ausstattete? Wer weiß das schon so genau.

Fest steht, dass der Drang dazu und der Spaß daran schon früh vorhanden waren. So erinnert sich Iris Apfel mit Wonne an die Zeit während des Zweiten Weltkriegs in New York, als sie gemeinsam mit einer Freundin die Wohnungen eines Apartmenthauses an der Park Avenue gleich um die Ecke einrichtete.

Flohmärkte »Wir haben uns für jedes Apartment einen bestimmten Bewohner-Typ ausgedacht – den Playboy, die Mätresse, den Hollywood-Produzenten auf Besuch. Dann sind wir rausgegangen und haben die Wohnung bis ins letzte Detail für diesen Typ dekoriert.« Das war nicht leicht während des Krieges. Um Stoffe und Möbel zu finden, mussten sie tagelang auf Flohmärkten und Müllhalden herumstöbern. Aber Iris Apfel hat nie in ihrem Leben so viel Spaß gehabt.

Im Grunde hat sie niemals aufgehört, genau das zu tun, was sie damals tat. Eine Figur zu erfinden und dann aus allerlei Fundsachen einen Stil für sie zusammenzubasteln. Jetzt ist die Figur Iris Apfel, die aus diesem Spiel entstanden ist, zu einer Art Denkmal geworden. Spätestens seit dem Maysles-Film ist sie eine Figur der Popkultur, die sich hinter den anderen Sujets von Maysles Lebenswerk nicht verstecken muss.

Apfel quittiert das mit einem Achselzucken. »Ich habe in meinem Leben nie etwas geplant. Aber wenn sich etwas ergibt, dann muss man zugreifen.« Und so genießt die »graue Lady des Glamour« jeden Augenblick ihres Lebens, das so unwahrscheinlich und verrückt und doch so stimmig ist wie die Kombinationen, die sich Iris Apfel ausdenkt.

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