Hiroshima

Denker des Undenkbaren

Wie der Abwurf der Atombombe vor 70 Jahren den Philosophen Günther Anders prägte

von David Johst  03.08.2015 18:02 Uhr

Ein einziger Handgriff genügt, um Hunderttausende zu vernichten: Luftaufnahme von Hiroshima 1945 Foto: dpa

Wie der Abwurf der Atombombe vor 70 Jahren den Philosophen Günther Anders prägte

von David Johst  03.08.2015 18:02 Uhr

Der Schriftsteller Günther Anders bezeichnete sich selbst gerne als Gelegenheitsphilosoph, dem nicht die Philosophie, sondern die Welt Anstoß zum Philosophieren ist. »Die beiden monströsen Ereignisse, die mein Leben am meisten beeinflusst haben«, wird Anders im Rückblick auf sein Leben schreiben, »waren die Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten und der Abwurf der Atombomben über Hiroshima und Nagasaki.«

Günther Anders hat den 6. August 1945, den Tag, an dem die erste Atombombe über dem Zentrum von Hiroshima explodierte, später als die Stunde Null seines Denkens bezeichnet, als zentralen Wendepunkt seiner Biografie. Doch er hatte sich bereits vor diesem Datum intensiv mit der Frage der Technik und ihrer Bedeutung für den Menschen beschäftigt. Sein Hauptwerk Über die Antiquiertheit des Menschen begann er bereits im New Yorker Exil in den 30er-Jahren zu schreiben. Betrachtet man dieses Frühwerk, so erscheint die atomare Vernichtung von Hiroshima und Nagasaki nur als Bestätigung seiner früheren Thesen. Doch dieser Eindruck täuscht, denn für Anders war die Bombe das schlechthin Neue, ein ungeheurer Einbruch in die Menschheitsgeschichte.

Aus dieser Perspektive schrumpfte für ihn sogar die Vernichtungspolitik der Nazis zur bloßen Vorgeschichte. Auschwitz, schreibt Anders in seinem Buch Besuch im Hades, sei moralisch ungleich entsetzlicher gewesen als die Atombombenabwürfe, diese aber ungleich schlimmer. Denn in den Flugzeugen am japanischen Himmel, fernab des Lebens in den beiden Städten, habe ein einziger Handgriff genügt, um schlagartig Hunderttausende zu vernichten und mit ihnen auch alle religiösen und philosophischen Ethiken. Es ist die ins Unermessliche gesteigerte Potenz der Vernichtungskraft, die Anders dazu zwingt, sein Leben ganz dem Kampf gegen Atomwaffen zu widmen und dafür alle seine ursprünglichen Pläne als Wissenschaftler und Literat aufzugeben.

Flucht Günther Stern, so sein Geburtsname, wird 1902 in Breslau als Sohn jüdischer Eltern geboren. Nach Studien in Hamburg und Freiburg arbeitet er als Journalist für den Berliner Börsen-Courier, bis er vor den Nazis zunächst nach Frankreich und dann in die USA flüchtet. Kurz ist er dort für das Office for War Information tätig, dessen Hauptaufgabe darin besteht, die deutsche Bevölkerung mit Gegenpropaganda zu versorgen. Nach wenigen Monaten kündigt er den lukrativen Job, weil er sich weigert, ein Buch über die Japaner, das er für faschistoid hält, ins Deutsche zu übersetzen.

So wenig, wie Anders politische Rücksichten nimmt, so gering achtet er die Zugehörigkeit zu einer philosophischen Schule. In seinem Schreiben wechselt er ständig zwischen wissenschaftlichen und literarischen Formen. Vielleicht ist es diese Unangepasstheit im Denken, die Anders für die Rolle des einsamen Warners vor der atomaren Apokalypse vorherbestimmen. In einem Interview auf seine literarischen Pläne angesprochen, antwortet Anders: »In unseren Zeiten muss man sich schöne Lieblingsbeschäftigungen verkneifen.«

Der Philosoph der technischen Moderne wird zum Philosophen der Bombe. Während andere Intellektuelle das Ereignis zur Kenntnis nehmen, ohne daraus Schlussfolgerungen zu ziehen, sieht Anders eine neue Zeitrechnung anbrechen. Mit dem Einsatz der Bombe habe sich der Mensch zum Herren der Apokalypse gemacht; zum ersten Mal sei der Mensch in der Lage, nicht nur andere Menschen zu Millionen zu töten, sondern die Menschheit als Ganzes zu vernichten.

vernichtung Der tiefe Schrecken, von dem Anders’ Denken zeugt, beruht jedoch nicht nur auf der Erkenntnis der absoluten Vernichtung, sondern ebenso oder sogar noch mehr auf der damit einhergehenden Unfähigkeit des Menschen, sich die Folgen seines Handelns vorzustellen. Es ist die durch die Bombe enorm gewachsene Diskrepanz zwischen der maßlosen technischen Fähigkeit der Menschen und ihrer beschränkten Kraft, sie moralisch im Zaum zu halten.

Anders verwendet für diese Diskrepanz den Begriff des »prometheischen Gefälles«, einer wachsenden Kluft zwischen dem, was der Mensch herstellen, und dem, was er sich vorstellen kann. Dieser Mangel an Vorstellungsvermögen führt zur Enthemmung und Gleichgültigkeit gegenüber den Folgen unseres Handelns. Nicht ein Wahnsinniger werde die nächste Bombe zünden, ist sich Anders sicher, sondern ein Beschränkter – einer, der zu beschränkt ist, um sich das, was er tun könnte, also seine unbeschränkte Vernichtungsmacht, vorstellen zu können.

Anders steht hier in der Tradition der Kritischen Theorie, die im technischen Fortschritt die Gefahr eines Umschlagens von Aufklärung in Barbarei, von Vernunft in entmenschlichte Rationalität sieht. Günther Anders erkennt in den Todesfabriken von Auschwitz eine extreme Ausformung des technischen Fortschritts. Er ist vor allem von der bürokratischen Organisation des Massenmordes, dem Fehlen des im traditionellen Sinne Bösen, schockiert. Das Böse sei so sehr zum integrierenden Bestandteil der Situation selbst geworden, dass es dem Individuum erspart bleiben könne, selbst böse zu sein. Dabei stellt Anders ausdrücklich nicht infrage, dass viele der Mörder die Gelegenheit der Maschinerie genutzt haben, um ihren persönlichen Sadismus auszuleben.

»tötbar« Auschwitz bedeutet für Anders, dass fortan alle Menschen nicht bloß sterblich, sondern auch »tötbar« sind. Hiroshima dagegen bedeutet für ihn, dass die Menschheit als Ganzes tötbar ist. Anstelle der Frage, wie die Menschen weiterleben werden, sei die ungeheure Frage getreten, ob sie überhaupt weiterleben werden. Angesichts der Ungeheuerlichkeit einer Selbstvernichtung der Menschheit werden für Anders alle anderen Fragen zweitrangig. Gerade in der Gegenüberstellung von freier westlicher und unfreier östlicher Welt sah er die Gefahr einer Eskalation. Aus diesem Grund war es für ihn am Ende unerheblich, in wessen Händen sich die Bombe befindet. Jede Hand, die den Knopf drückt, sei die falsche Hand.

Anders genügt es nicht, das atomare Zeitalter philosophisch zu deuten. Er will den Menschen die Gefahr, in der sie schweben, nicht nur verständlich, sondern vorstellbar, fühlbar machen. Darum greift er ganz bewusst zum Mittel der Übertreibung, der Zuspitzung, der Provokation. Seinen Zeitgenossen attestiert Anders eine »Apokalypseblindheit«, die Neigung, die monströse Macht der Bombe zu verdrängen. Dagegen fordert Anders dazu auf, die Furcht neu zu lernen. Gemessen an der Angst, die wir eigentlich haben müssten, seien wir »Analphabeten der Angst«.

Nur wer sich fürchte, bringe die notwendige Fantasie auf, sich die Folgen eines atomaren Krieges vorzustellen. Dabei ist Anders skeptisch, ob es der Menschheit überhaupt gelingen kann, die nötige Fantasie aufzubringen. Wir müssen es dennoch versuchen, auf diese Formel lässt sich sein moralischer Pragmatismus bringen. Anders lebt diese Haltung vor, reist nach Hiroshima, engagiert sich in der Antiatomwaffenbewegung, tritt als unermüdlicher Mahner auf zahlreichen politischen Veranstaltungen auf. Sein politischer Aktivismus geht einher mit einem Verzicht auf politische oder religiöse Illusionen. Hoffnung hält er für eine Form der Feigheit.

Hoffnung Doch hinter der Attitüde des illusionslosen Denkers der Apokalypse kann auch Anders die Hoffnung nicht ganz aufgeben. Keines seiner Bücher war so erfolgreich wie sein Briefwechsel mit dem Hiroshima-Piloten Claude Eatherly. Mit ihm verband Anders die Hoffnung auf eine Ausnahme von der Regel des absoluten Gehorsams. Aus der Zeitung hatte Anders vom Schicksal des Piloten erfahren, der aufgrund seiner Teilnahme am Abwurf der Atombombe unter Albträumen litt und wahllos sinnlose Verbrechen beging, um bestraft zu werden – für die Toten von Hiroshima und Nagasaki.

Er kam jedoch nicht ins Gefängnis, sondern wurde in eine psychiatrische Heilanstalt eingewiesen. Später stellte sich heraus, dass Eatherlys Geschichte zahlreiche Widersprüche enthielt, er in vielen Punkten nicht die Wahrheit gesagt und sein Handeln vielleicht nie ernsthaft bereut hatte. Die Vehemenz, mit der Anders jede Kritik an Eatherly, jeden Zweifel an seiner moralischen Integrität ablehnte, zeugt von seinem Wunsch nach einer versöhnlichen Ausnahme, nach einem Menschen, der Sühne sucht für die Verbrechen der Moderne.

»Nachdem du gesehen hattest, was du angerichtet hattest«, schreibt Anders, »da bist du aufgestanden, da hast du nein gerufen.« Anders stellt Eatherlys vermeintliche Reue dem Verhalten Adolf Eichmanns gegenüber, der sich als Cheforganisator des Judenmordes stets auf seine Pflicht berufen hatte. »Eichmann und du – ihr seid die beispielhaften Figuren unserer Epoche. Und gäbe es dich nicht als Gegenfigur zu ihm, wir hätten allen Grund, in dieser Eichmann-Zeit zu verzweifeln.«

Das Denken von Günther Anders schwankt zwischen Hoffnung auf Einsicht und Illusionslosigkeit. Er forderte unmissverständlich einen dauerhaften und gegebenenfalls auch gewaltsamen Widerstand gegen die Politik des atomaren Wettrüstens. Der zentrale Bezugspunkt seines Denkens bleibt bis zu seinem Lebensende – Günther Anders stirbt 1992 – der Abwurf der Atombomben über Hiroshima und Nagasaki. Immer wieder spricht er von der Fantasieaufgabe, die wir täglich zu erfüllen haben. Sie besteht für ihn darin, »dass wir uns das Bild eines leblosen, nackten Planeten vorstellen, der einmal Erde geheißen hat. Und dieses Bild haben wir allen Zeitgenossen zu vermitteln, damit es sich nicht verwirklicht.«

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