EMG

»Schland, Schland!!«

Auf Momente wie diesen hat Leonid Ravikovich mehr als zwei Jahre lang hingearbeitet. Für einen solchen Augenblick musste der 30-jährige Düsseldorfer Badmintonspieler viel entbehren. Wenn Freunde von ihm in den vergangenen Monaten feiern gingen, blieb Ravikovich oft zu Hause, weil er am nächsten Morgen fit fürs Training sein wollte.

Wenn sein Wecker unter der Woche noch früher als sonst klingelte, weil er vor der Arbeit noch joggen gehen wollte, wusste er jedoch, dass sich der Einsatz lohnen würde. Immer hatte er dieses eine Bild vor Augen, von dem ihm seine Mitspieler von Maccabi Düsseldorf oft berichtet hatten: den einzigartigen Moment, als jüdischer Sportler an einer Eröffnungsfeier von Makkabi-Spielen teilzunehmen.

Nun ist es also endlich so weit: Am Dienstagabend steht der Softwareentwickler auf dem Berliner Maifeld nahe der Waldbühne – jene Orte, an denen die Nazis 1936 jüdische Sportler von der Teilnahme an den Olympischen Spielen ausschlossen –, blickt sich um und kann es immer noch nicht richtig fassen. Gemeinsam mit mehr als 2100 anderen Makkabi-Athleten aus 38 Ländern wird Ravikovich gleich feierlich in die Waldbühne gehen und die EMG eröffnen. »Ich habe schon jetzt Gänsehaut«, sagt Ravikovich. »Vor ein paar Jahren noch hätte ich es nie für möglich gehalten, hier zu stehen.«

wandel Wie alle anderen deutschen Sportler trägt auch er die offizielle schwarz-rot-goldene Turnierkleidung. »Makkabi Deutschland!«, »Wer nicht hüpft, der ist kein Deutscher!« und »Schland! Schland!« rufen er und seine Teamkollegen immer wieder ausgelassen. Noch vor einigen Jahren hätte er sich nie so stark zu Deutschland bekennen können wie heute, erklärt der Sportler. 1995 kamen er und seine Familie aus der Ukraine nach Unna-Massen, lange Zeit ist Deutschland für ihn negativ besetzt gewesen. »Deutschland, damit verband ich Schoa, Fremdenfeindlichkeit und schlecht gelaunte Menschen.«

Doch irgendwann geriet dieses Bild ins Wanken. Für den Sportler hat dabei die Fußball-WM 2006 in Deutschland eine große Rolle gespielt. »Auf einmal war Schwarz-Rot-Gold cool. Die Welt hat gesehen, dass die Deutschen tolerant, weltoffen und feierwütig geworden sind.« Wie viele andere deutsche Athleten hat Ravikovich auch keine Probleme damit, hinter der Deutschlandflagge herzulaufen und zur Nationalhymne ins Olympiastadion einzumarschieren. »Fast 70 Jahre nach Kriegsende wollen wir zeigen, dass die jüdische Gemeinschaft ein selbstverständlicher Teil des Landes ist«, sagt der Düsseldorfer. »Ich bin stolz darauf, Deutschland vertreten zu dürfen.«

schoa Inzwischen hat sich die deutsche Delegation nach und nach in Richtung Waldbühne in Gang gesetzt. Eine Athletin, die ganz vorne mitmarschiert, ist die israelisch-deutsche Fußballspielerin Li, die seit einigen Jahren in Berlin lebt. Ihre Großmutter war deutsche Jüdin und konnte nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten gerade noch rechtzeitig nach Palästina fliehen. Tanten und Onkel ihrer Großmutter wurden nach Auschwitz deportiert und ermordet. Als Li an diesem Abend zum ersten Mal den Olympiapark betritt, ist sie in Gedanken bei ihrer Familie.

Vor einigen Jahren zog Li nach Berlin, auf der Suche nach Spuren ihrer deutschen Familie. Ihre Teilnahme für Deutschland bei den European Maccabi Games versteht die Sportlerin auch als Auszeichnung, da die Bundesrepublik heute zu den engsten Freunden Israels gehört. Bedenken, mit der deutschen Nationalhymne in die Waldbühne zu gehen, hat sie nicht. »Für mich schließt sich heute der Kreis. Die Nazis haben versucht, meine Familie umzubringen. Jetzt stehe ich mit 2100 anderen Jidelach hier an diesem Ort, den Hitler für seine Propaganda-Show missbrauchte – das ist ein Sieg über die Geschichte und ein Beleg dafür, wie stark sich das Land verändert hat.«

fahne Ein Wandel, der noch nicht allzu lange andauert. Fünf Reihen vor der Fußballspielerin steht der Squashspieler Robby Rajber vor der Waldbühne und wartet mit Teamkameraden seines Vereins TSV Maccabi München auf das Startsignal für die deutsche Delegation. Der 53-Jährige erinnert sich noch gut daran, dass bei der Maccabiah in Israel 1969 kein Athlet die Deutschlandfahne tragen wollte. »Das war zu einer Zeit, als man sich vor anderen Juden im Ausland dafür geschämt hat, hier zu leben«, sagt Rajber, während die israelischen Sportler als erste Delegation unter großem Jubel der rund 10.000 Zuschauer die Waldbühne betreten.

Er selbst hat sich als Kind in den Sommerferien in Israel oft als Schweizer ausgegeben, um von den einheimischen Kindern beim Spielen nicht ausgeschlossen zu werden. »Damals war es wegen der Geschichte ein Tabu, in Deutschland zu leben«, erinnert sich der Sohn von Schoa-Überlebenden. Doch im Laufe der Jahrzehnte hat er seine Meinung geändert. »Das Deutschland der 60er-Jahre mit den Altnazis und selbst das der 90er, in dem regelmäßig Flüchtlingsheime angezündet wurden, existiert zum Glück nicht mehr«, ist Rajber überzeugt.

Der Münchner ist nicht zuletzt auch deshalb nach Berlin gekommen, um ein Zeichen zu setzen. Sein Vater lehnte verständlicherweise alles ab, was mit Deutschland zu tun hatte. Er hingegen erklärt: »Es ist normal für mich, hier zu leben. Ich lebe gern hier. Das ist selbstverständlich auch mein Land. Mit den EMG zeigen wir der Welt: Wir haben überlebt, wir sind zurück, wir haben gesiegt. Für mich ist das auch ein March of Victory.«

Freudentanz Und dann ist es endlich so weit. »Hier sind sie nun: die Sportler und Sportlerinnen von Makkabi Deutschland!«, ruft Moderatorin Palina Rojinski enthusiastisch ins Mikrofon. Auf Zuruf der Ordner rennen alle 365 deutschen Athleten über eine Treppe direkt neben dem Publikum in das Halbrund. Es folgt ein wilder minutenlanger Freudentanz der Makkabäer vor der Bühne des Amphitheaters, angefeuert von Rufen der applaudierenden Besucher. »Oh, wie ist das schön!« und »Heimsieg, Heimsieg« stimmen die Sportler ihrerseits immer wieder an.

Kurz darauf, als alle 2100 Sportler aus 38 Ländern in die Waldbühne einmarschiert sind, lautstark gefeiert, getanzt und gesungen haben, wird es noch einmal für einen Moment ganz ruhig. So ruhig, dass man eine Stecknadel fallen hören könnte. Dann ertönt die deutsche Nationalhymne. Keineswegs alle, aber doch viele Makkabäer stimmen prompt in das Lied mit ein. Darunter auch Leonid Ravikovich und sein gesamtes Badminton-Team.

Wieder so ein Moment, dem er und viele andere deutsche Makkabäer seit Langem entgegengefiebert haben – und der noch lange nachwirken wird.

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