Identität

Der begehrte Makel

In einem amerikanischen Kaff namens Spokane hat eine junge Frau in der vergangenen Woche einen Skandal ausgelöst, von dem wir nichts wüssten, wäre er nicht so recht nach dem Geschmack der übermächtigen Internetwelt. In ihr ist jede Wirklichkeit manipulierbar, und Irreführung gilt ihr als Inbegriff der Freiheit.

Rachel Dolezal, 37 Jahre alt, Professorin am Fachbereich Afrikanistik an der Eastern Washington University, Tochter weißer Christen aus der US-Mittelklasse, blauäugig und einstmals blond, ließ seit einigen Jahren ihre Mitwelt glauben, sie sei farbig. Einen afroamerikanischen Freund stellte sie auf Facebook als ihren Vater aus. Die Haut gebräunt, das gefärbte Haar stark gekräuselt, ein kleines afroamerikanisches Kind an der Hand, ihr jüngster Adoptivbruder, den sie als ihren Sohn ausgab: Mehr war nicht nötig, es funktionierte.

Diskriminierung Von ihrer weißen Mitwelt erlebte sie sich alsbald entsprechend schlecht behandelt und wurde sogar bedroht. Die schwarze Mitwelt ließ die Hinzugekommene mit der hellen Haut gewähren. Eine Mischung aus vielem schien die Afrikanistik-Professorin zu sein. Keine reine Schwarze, aber was will man sich beschweren. Barack Obama ist auch kein reiner Afroamerikaner, und doch schreibt dieser Präsident Geschichte für die Schwarzen.

Sogleich begann sich die vermeintlich schwarze Professorin in der Stadt zu engagieren, kämpfte gegen Diskriminierung, legte sich mit der örtlichen Polizei an und wurde im Januar in Spokane im Staat Washington gewählt zur Vorsitzenden der örtlichen National Association for the Advancement of Colored People – die wichtigste Bürgerrechtsorganisation der Schwarzen.

Bei den Juden sind die eifrigsten Juden nicht etwa alle Konvertiten, aber fast alle Konvertiten sind unter den eifrigsten Juden. Sie wissen Bescheid, sie kennen die Gesetze und Gebräuche besser als mancher geborene Jude. Müssen sie ja. Der Rabbiner ließe sie sonst nicht konvertieren. Sie leben koscher, sie lassen sich von Antisemiten belästigen, und wenn sie Israel kritisieren, tun sie es vermutlich in dem Gefühl, sich die Berechtigung dazu schwer erarbeitet zu haben, beseelt davon, der israelfeindlichen Weltöffentlichkeit den besseren Juden zu geben.

Leidensdruck Er hätte so gern eine KZ-Nummer am Arm, sagte mir einmal ein nichtjüdischer Freund. Er glaubte, dann würde man seinen Leidensdruck ohne Weiteres anerkennen. Wie wenig weiß die nichtjüdische Mitwelt doch vom Antisemitismus! Inzwischen ist er zum Judentum übergetreten, hat sich eine Kippa aufgesetzt und verheimlicht seinen familiären Hintergrund, den einer normalen deutschen Nazifamilie.

Gleichwohl bleibt die wahre Herkunft der Konvertiten erhalten. Es gibt sie, und wird sie verleugnet, treibt sie an zu weiterer Camouflage. Sie wird zur Peitsche. So erzählte Rachel Dolezal im Februar dem Studentenmagazin »The Easterner« vor laufender (Internet-)Kamera, ihre weiße Mutter und ihr späterer weißer Stiefvater (derselbige schwor jetzt auf allen Kanälen, der leibliche Vater zu sein) hätten sie als Kind mit einer Peitsche traktiert. Und zwar mit was für einer Peitsche? Jenen Peitschen ähnlich, wie Schwarze sie in der Sklaverei zu fühlen bekommen hätten.

Wenn sich nun eine amerikanische Weiße »als schwarz begreift«, wie Rachel Dolezal es für sich formuliert, und die Mitwelt irreführt, verleugnet sie den historischen Hintergrund der Sklaverei und den andauernden Rassismus in ihrem Land. Denn nichts davon beschwert ihr Leben. Drängt es einen christlichen Deutschen dazu, sich als geborenen Juden auszugeben, gibt er sich nicht als Konvertit zu erkennen, löscht er sozusagen in sich die Schoa aus.

abwehr In beiden Fällen wird eine Identität gewählt, die dem eigenen Leidensdruck ein Gesicht geben soll. Darum muss die Haut, in die hier geschlüpft wird, gezeichnet sein von etwas, das die Gesellschaft als Makel versteht. Es geht um eine Wunscherfüllung. Den Eltern in anderer Gestalt das eigene Unglück zeigen zu können. Gleichzeitig wird die Zugehörigkeit zu diesen Eltern damit abgewehrt. Vermieden wird die Auseinandersetzung mit den Eltern, vermieden wird die Konfrontation mit sich selbst.

Kommt die Täuschung ans Licht der Öffentlichkeit, hört für die Mitwelt der Spaß auf. Man fühlt sich betrogen, aber man fühlt sich jeweils anders betrogen. Die Irreführung durch die vermeintlich schwarze Rachel Dolezal hat die weiße Mitwelt ins Mark ihrer Vorurteilsfreudigkeit getroffen.

Die schwarze Mitwelt fühlt den Spott gegen sich selbst gerichtet. Beneiden nicht gerade Schwarze die Hellhäutigeren unter ihresgleichen? Muss sich nicht jede schwarze Frau und so mancher schwarze Mann diese Frage gefallen lassen: Was machst du mit deinem Haar? Sie bügelt die Lockenpracht unter Schmerzen glatt oder trägt Perücke. Er rasiert seinen Wuschelkopf.

Unterwerfung Den umgekehrten Weg, von schwarz nach weiß, und sei es auch nur durch angepasste Haare, oder von jüdisch zu christlich, den toleriert, den belobigt hingegen die dominierende weiße, christliche Mitwelt, wenn sie die Abkehr vom Selbst und die Unterwerfung unter ihre Normen nicht sogar verlangt.

»Viele wussten ja gar nicht mehr, dass sie Juden waren.« Ich höre diesen Satz immer mal wieder bei Veranstaltungen, in denen es um das deutsche Judentum während der NS-Zeit geht. Ich höre kein Bedauern in diesem Satz. Eher so etwas: Wenn sogar Juden nicht einmal mehr wussten, dass sie Juden waren, wieso nehmt ihr Juden euch immer so wichtig? Am Ende dieses Satzes lauert die Empörung darüber, dass Israel sich als jüdischer Staat bezeichnet.

Besonders in Deutschland verlegten sich Juden darauf, ihr Judentum vor den eigenen Kindern zu verheimlichen. Die Familie Pringsheim, die Elternfamilie von Katia Mann, deren Ehemann der Schriftsteller und Nobelpreisträger Thomas Mann war, ist dafür ein prominentes Beispiel. Und bis in die aktuelle Literaturwissenschaft, allen voran die deutsche, wird die Verleugnung des Jüdischen bei dieser Familie weiter betrieben, obwohl man es besser wissen könnte.

NS-zeit Es gab in der BRD und auch in der DDR nach 1945 einzelne Deutsche, die sich als Juden ausgaben, um ihre Nazivergangenheit zu verleugnen, wie sie vorher geholfen hatten, jüdisches Leben auszulöschen. Es gab in der folgenden Generation in beiden Teilen Deutschlands vereinzelt Künstler, die sich jüdisch klingende Namen zulegten und es dem kulturellen Gedächtnis des deutschen Antisemitismus überließen, sie für jüdisch zu halten.

Die Annäherung an das Andere, die Integration des Fremden, des vermeintlich Bedrohlichen, kann nicht gelingen und kommt keinen Schritt voran, wenn stattdessen das herkömmliche Selbst zur Bedrohung wird und ausgelöscht werden muss wie etwas Fremdes.

Doch damit werden wir es zunehmend zu tun bekommen: Mit der Versuchung, den scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten des Internets zu erliegen. Die Internet-Welt will glauben machen, mit ihrer Manipulationskultur seien gesellschaftliche Probleme wie Rassismus und Homophobie (ausgenommen Antisemitismus) zu lösen, weil angeblich alle alles sein können.

Es ist eine Kultur der Verleugnung. Sie wird von der Internet-Welt zur Toleranz erklärt. Erfahrung und Erinnerung, woraus sich die Fähigkeit entwickelt, Grenzen anzuerkennen, sind die Voraussetzung für Empathie und Toleranz. All dem widerspricht die Internet-Kultur der Verleugnung.

Viola Roggenkamp, 1948 in Hamburg geboren, hat sich in ihren Romanen und Sachbüchern (zuletzt in »Tochter und Vater«, S. Fischer 2011) immer wieder mit dem jüdischen Leben im Nach-Schoa-Deutschland auseinandergesetzt.

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