Redezeit

»Wir wollen etwas Neues schaffen«

Herr Shalev, Ihre Anthologie, die Sie gemeinsam mit Norbert Kron herausgegeben haben, heißt »Wir vergessen nicht, wir gehen tanzen«. Wie kamen Sie auf diesen Titel?
Vor einiger Zeit hat ein Adolek Kohn – ein Mann, der Auschwitz überlebte – das ehemalige Vernichtungslager besucht und dort zu dem Hit »I will survive« getanzt. Das Video hat er auf YouTube hochgeladen, und es wurde in der ganzen Welt diskutiert. Das war unser Ausgangspunkt, aber es trifft auch einen Nerv der dritten Generation nach der Schoa in Deutschland und in Israel. Auch wenn wir uns der Vergangenheit sehr bewusst sind, wollen wir in einer anderen Welt leben, tanzen gehen und durch zwischenmenschliche Begegnungen etwas Neues schaffen.

Wie haben Sie die Autoren – darunter Assaf Gavron, Sarah Blau, Eva Menasse, Sarah Stricker und Marko Martin – ausgewählt?
Meinen Ko-Herausgeber habe ich 2008 kennengelernt, bei einem deutsch-israelischen Autoren-Fußballspiel. Wir wollten in erster Linie Schriftsteller gewinnen, die zwischen 20 und 40 sind. Manche sind von dem Projekt wieder abgesprungen, weil die Texte ihren eigenen Ansprüchen nicht genügten. Aber jetzt haben wir eine gute Sammlung: fiktionale Annäherungen, Utopien und Grotesken – und Texte über persönliche, auch intime Beziehungen zwischen Israelis und Deutschen.

Alle heute 20- bis 40-Jährigen weltweit, schreiben Sie in Ihrem Vorwort, sind mit denselben Musikstilen, TV-Kanälen und dem Internet aufgewachsen, egal ob Deutsche oder Israelis. Sehen Sie trotzdem einen Unterschied, wie sich beide mit der Vergangenheit auseinandersetzen?
Zwischen jungen Deutschen und Israelis gibt es inzwischen eine gemeinsame kulturelle Sprache. Sie haben unterschiedliche Familiengeschichten, aber ihr Leben wird nicht mehr von der Vergangenheit diktiert. Trotzdem sind die Deutschen immer noch vorsichtiger. Sie können über Nazis und über Hitler lachen, aber niemals über Juden und das, was ihnen angetan wurde. Das ist ein großer Unterschied. Und die Deutschen setzen sich, wenn sie sich mit ihrer eigenen Vergangenheit auseinandersetzen, meistens auch mit dem israelisch-palästinensischen Konflikt auseinander. Für viele Israelis hat beides nicht unbedingt miteinander zu tun, obwohl es natürlich auch zusammenhängt.

Stört es Sie, wenn Deutsche den Nahostkonflikt lösen wollen?
Ich sehe das nicht unbedingt negativ. Ich merke, dass es sie sehr beschäftigt und ihnen Sorgen macht. Sie meinen es gut und möchten einfach, dass dieser Konflikt beendet wird.

Mir ist aufgefallen, dass einige der israelischen Autoren – zum Beispiel Assaf Gavron und Sie – sich intensiv mit pornografischen Fantasien und dem in Ihren Augen offenbar sehr freizügigen deutschen Liebesleben beschäftigen. Wie kommen Sie auf die Idee, die Deutschen seien ein sexuell befreites Volk?
Wissen Sie, in den frühen 80er-Jahren gab es in Israel kaum Pornofilme. Man konnte sie nur über Piratenkanäle schauen. Und wenn man welche sah, dann waren sie auf Deutsch, etwas anderes gab es kaum. Ich muss übrigens sagen, ich selbst war kein großer Konsument von Pornos – ich hatte schreckliche Angst vor meinem Vater. Es war seltsam, weil wir als Kinder in der Schule so viel über deutsche Bösewichte und Nazis gehört hatten, und auf einmal sahen wir eine ganz andere Sorte von Deutschen auf dem Bildschirm – nämlich Pornostars. Und später kamen neue Eindrücke dazu: Wir haben deutsche Popmusik gehört und deutsche Literatur gelesen, und irgendwann wurde uns klar, dass die Welt nicht schwarz-weiß ist.

Mit dem israelischen Schriftsteller sprach Ayala Goldmann.

Norbert Kron/Amichai Shalev (Herausgeber): »Wir vergessen nicht, wir gehen tanzen. Israelische und deutsche Autoren schreiben über das andere Land«. Aus dem Hebräischen von Barbara Linner. S. Fischer, Frankfurt 2015, 320 S., 18,99

www.dontforgetdance.com

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