Philosophen

Eine Liebe zur Unzeit

Der kommunistische Philosoph hat seine wunderschöne Gemahlin betrogen. In seinem Entschuldigungsbrief lässt er es weder an Zärtlichkeit noch an Scharfsinn fehlen: »Es auf eine abstrakte Weise einzusehen, dass das Wirkliche widersprüchlich ist, ist leicht, aber wer erkennt, dass diese widersprüchliche Wirklichkeit aus Tränen und Ungerechtigkeiten und – einer verzopften Moral zufolge – aus treulosen Taten besteht, der könnte, selbst wenn er so klug wie meine Maï ist, versucht sein, den metaphysischen Standpunkt einzunehmen und zu denken: ›Entweder liebt er mich und ist zu 100 Prozent sauber oder er ist nicht zu 100 Prozent sauber, was hieße, dass er mich nicht liebt.‹«

Michel Politzer zitiert dieses Meisterstück an dialektischer Überredungskunst in einem Buch, das es ebenfalls weder an Zärtlichkeit noch an Scharfsinn fehlen lässt. Es ist mehr als eine Erinnerung, es ist auch die Beschreibung eines jahrzehntelangen schmerzhaften Versuchs, sich zu erinnern. Denn der Brief aus dem Jahr 1938 stammt von seinem Vater, dem »Philosophen mit dem Rotschopf«, Georges Politzer, und ist gerichtet an seine Mutter, Maï Politzer. Vater und Mutter hat der heute 80-jährige Sohn, ein Künstler, verloren, als er noch keine zehn Jahre alt war. »Sie haben mein Leben verlassen, um in die Geschichte einzugehen«, schreibt er.

Anfechtungen Der Brief des roten Philosophen endet in der festen Überzeugung, »die Partei und unsere Liebe« würden ihnen beiden, Georges und Maï, immer genügen und sie über alle Kleinlichkeiten hinwegtragen. Die Partei und die Liebe; der Glaube schien unerschütterlich. Und doch sollte sich Georges Politzers Glaube an seine Partei und seine Ehe bereits ein Jahr später heftigen Anfechtungen ausgesetzt sehen. Im August 1939 schlossen das Deutsche Reich und die Sowjetunion den Hitler-Stalin-Pakt.

Die Auswirkungen dieses Pakts auf Kommunisten weltweit, insbesondere auf die französischen, waren gewaltig. Noch eine Woche vor der Unterzeichnung des Pakts hatte Politzer, einer der feinsten Analytiker der Partei, die Lehre des Nazi-Ideologen Alfred Rosenberg genüsslich zerpflückt. Nun sollte das alles nichts mehr gelten, nun sollten die Kommunisten sich des antifaschistischen Kampfes enthalten; ein Schwenk um 180 Grad.

Und es kam noch ärger, denn Frankreichs Premierminister Édouard Daladier, selbst ein Regisseur der Appeasement-Politik, verbot die kommunistische Partei unter Berufung auf ihren Defätismus. Der Parteiführer Maurice Thorez wurde nach Moskau beordert, die französischen Kommunisten standen unversehens alleine da, und schon nahten »drôle de guerre« und Besatzung.

Hundertprozentig Politzer, der in zwischenmenschlichen Verhältnissen Hundertprozentigkeit für »metaphysisch« hielt, blieb in seinem Verhältnis zur Partei ein Hundertprozentiger. Er zerriss ein ihm gewidmetes Buch von Paul Nizan, der nach dem Hitler-Stalin-Pakt aus der Partei ausgetreten war. Aber Politzer war auch Jude, er hatte bereits 1919 in Ungarn gegen den späteren faschistischen Reichsverweser Miklós Horthy gekämpft. Er wusste, was kommt, und so wurde er bereits 1940 zu einer führenden Figur der intellektuellen Résistance von Paris.

1940 und noch bis zum Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 war die Résistance nicht offizielle Politik der kommunistischen Partei, ganz im Gegenteil. Seit dem 17. Juni 1940 verhandelten ihre Funktionäre mit dem deutschen Statthalter Otto Abetz darüber, er möge doch die von der französischen Regierung festgesetzten Genossen freilassen, die aus ihren Ämtern entlassenen kommunistischen Bürgermeister wieder einsetzen und sogar das Erscheinen von »L’Humanité« genehmigen.

So abenteuerlich sich diese Forderungen heute anhören, Abetz traf sich noch den ganzen Sommer über mit den zur Kollaboration bereiten Funktionären. Im Juli sah sich Thorez gezwungen, aus Moskau den Abbruch der Verhandlungen zu verlangen. Doch er hatte seine Autorität verloren.

Untergrund Unterdessen hatten sich im ganzen Land Aktivisten von der Linie der Partei entfernt und waren in den Untergrund gegangen. In Paris kursierte seit November das erste regelmäßig erscheinende Zirkular der Résistance, »L’Université libre« (Die freie Universität).

Als erste Publikation des Widerstands überhaupt und lange vor allen anderen griff die Zeitschrift die antisemitischen Maßnahmen des Besatzers an. »Zeitschrift« ist allerdings ein großes Wort für die mühsam hektografierten und über ein klandestines Netz verteilten Blätter. Sie entfalteten eine erstaunliche Wirkung. Geschrieben wurde »L’Université libre« von Politzer, dem Physiker Jacques Solomon und dem Schriftsteller und intimen Deutschlandkenner Jacques Decour.

Decour, sieben Jahre jünger als Politzer, war bereits als gerade 20-Jähriger dem »indiskutablen Mythos der Rasse« begegnet. Das war 1930, als er für ein halbes Jahr am Magdeburger Domgymnasium hospitierte. Der Rebell aus großbürgerlichem Haus war damals noch nicht Kommunist, aber, wie Politzer, ein uneingeschränkter Befürworter des französischen Rationalismus. In unnachahmlich trockener Ironie legte er seine Eindrücke von Deutschland in dem Bericht Philisterburg nieder.

Im bürgerlichen Leben Deutschlehrer, schreckte er, wie Pierre Favre, sein Biograf, schreibt, in der Résistancezeit »auch davor nicht zurück, die von ihm selbst übersetzten antideutschen Flugblätter an die Windschutzscheiben der unter dem Eiffelturm geparkten Fahrzeuge der Wehrmacht zu klemmen«. Mit Solomon und Politzer bildete er das intellektuelle Zentrum des Pariser Widerstands. Aber er war Politzer noch auf andere Weise verbunden – er verliebte sich in Maï Politzer und sie sich in ihn.

Dreieck Marie, genannt Maï Larcade, stammte aus einer illustren Familie. Der Vater war Chefkoch, unter anderem in der französischen Botschaft von St. Petersburg. Maï lernte den Philosophen mit dem Rotschopf 1929 in einem Zugabteil kennen, in dem sie sich gerade in Blaise Pascal vertieft hatte. Der Kartesianer sprach die Katholikin an.

Er faszinierte sie, und für sie verließ er seine erste Frau. Gemeinsam durchstanden Georges und Maï Politzer alle Krisen und Kämpfe, gemeinsam gingen sie in den Untergrund, gemeinsam hausten sie in Verstecken, die sie »Victoire«, Sieg, nannten. »Victoire III« sollte ihre Niederlage sehen. Eine Freundin wollte Kohlen bringen, aber die Polizei war ihr bereits auf den Fersen. Maï trug ein Foto von Decour bei sich, so war auch er enttarnt.

Trotz der bis ans Ende nicht widerrufenen Verbundenheit des Ehepaares Politzer war die – wie Favre schreibt – »Liebe zur Unzeit« zwischen Jacques Decour und Maï weit mehr als nur eine Affäre. Einer Mitgefangenen im Gefängnis von Romainville gestand sie, dass sie Decour habe heiraten wollen. Georges Politzer scheint in eine Ménage à trois eingewilligt zu haben, ohnehin verlor er seine Frau auf andere Weise.

Dem glänzenden Lehrer machten die Nazis das Angebot, für ihre Sache zu arbeiten. Politzer lehnte ab, lange Folterungen begannen. Auf die Aufforderung, die Namen von »Terroristen« zu nennen, gab er zur Antwort, er kenne nur zwei Terroristen: General von Stülpnagel und Marschall Pétain. Kurz vor der Hinrichtung von Georges Politzer sahen sich die Eheleute ein letztes Mal. Den Arm hatten sie ihm brechen können, nicht seinen Willen. Dem Exekutionskommando sollte er zurufen: »Ich erschieße euch alle!«

Märtyrer Ganz anders verabschiedete sich Decour, der Zarte. Seinen Eltern schrieb er zwei Stunden vor der Hinrichtung, er komme sich »wie ein Blatt vor, das von einem Baum zur Erde fällt, um Humus zu werden«. Das Gymnasium, in dem er gelehrt hat, ist noch 1944 nach ihm benannt worden.

Im Gebäude findet sich ein Fresko, auf dem Decour als Märtyrer zu sehen ist, zu seinen Füßen ein blutrotes Blatt. Wie das Werk von Politzer, der Schelling übersetzt, Bergson und Freud kritisiert hat, gerieten auch die einst von Jean Paulhan gerühmten Erzählungen von Decour in Vergessenheit. Immerhin, an das Opfer der Nazis wird noch erinnert. Im November 2014 ist vor dem Domgymnasium zu Magdeburg, wo er einst das Heraufdämmern der Katastrophe beobachtet hat, ein Stolperstein für ihn verlegt worden.

Maï Politzer starb im März 1943 in Auschwitz an Typhus. Der Sohn schreibt: »Jahrelang habe ich mich dagegen gewehrt, mir Maï in dieser Hölle vorzustellen. Noch immer sträubt sich alles in mir dagegen.«

Einige Rätsel haben sich spät aufgelöst. So hatten die Eltern von Jacques Decour angenommen, die persönlichen Gegenstände, die ihr Sohn im Abschiedsbrief seinem »Freund Michel« vermacht hat, seien einem Neffen zugedacht. Erst 2002 erfuhr Michel Politzer von der Tochter Decours, die ihm ein kleines Schachbrett und ein Zigarettenetui ihres Vaters übergab, dass dieser kurz vor seinem Tod an ihn gedacht hat.

Michel Politzer: »Les trois morts de Georges Politzer. Récit«. Flammarion, Paris 2013, 366 S., 21 €

Der Autor veröffentlichte 2014 seine Übersetzung von Jacques Decours »Philisterburg«, darin auch dessen Abschiedsbrief (Die andere Bibliothek/Kometen).

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