Rachel Dror

»Ich sage immer, was ich denke«

Heute bin ich prominent. Viele Leute sprechen mich auf der Straße an, weil sie mich kennen. Vor allem meine Stimme ist vielen inzwischen bekannt. Auch anlässlich der 60-jährigen Staatsgründung Israels bin ich oft zu Vorträgen eingeladen worden. Mir bedeutet das allerdings nicht besonders viel, es geht mir dabei vor allem um die Arbeit. Und ich bin heute, mit 87 Jahren, sehr beschäftigt. Mein Terminkalender ist ziemlich voll. Ich halte eine Menge Vorträge, fast jeden Tag bin ich in der Synagoge und mache dort Führungen. Zwei bis drei sind es täglich. Immer freitags sind die Schulklassen an der Reihe. Ich erkläre den Besuchern den jüdischen Glauben und unsere Rituale, zum Beispiel, was koscheres Essen ist.
Ich brauche diese Aktivität, ich bin kein Typ für ältere Menschen. Ich möchte einfach nicht über Wehwehchen reden. Da umgebe ich mich lieber mit Jüngeren, das ist wesentlich spannender für mich. Und noch bin ich nicht zu alt, um bei ihnen anzukommen. Vielleicht liegt das auch daran, dass ich meine Jugend bis heute nicht vergessen habe und nicht moralisch geworden bin.
Zunächst hatte ich keine Lust, von meinen Erlebnissen zu erzählen. Ich sah keinen besonderen Sinn darin. Als ich dann irgendwann von der Landeszentrale für politische Bildung gefragt wurde, ob ich nicht als Zeitzeugin sprechen möchte, habe ich es mir nochmals anders überlegt. Heute erzähle ich gerne, besonders dann, wenn ich spüre, dass sich meine Zuhörer für das interessieren, was ich zu sagen habe. Vor allem die Schüler wollen gerne mehr über jüdische Geschichte und unsere Religion erfahren. Das merke ich daran, dass es dann in der Synagoge mucksmäuschenstill ist. Ich freue mich über das Interesse. Zu vielen der Lehrer, die mit ihren Schulklassen zu meinen Führungen kommen, habe ich guten Kontakt. Wir treffen uns auch sonst und diskutieren über die Fragen, die die Schüler und uns bewegen.
Ich wurde 1921 in Königsberg geboren. Im April 1939 kam ich über Italien mit dem lezten Schiff nach Palästina. Meine Entscheidung war nach der Kristallnacht gefallen. Als ich in jener Nacht in Hamburg nach Hause kam und sah, dass wir keinen Stuhl, kein Geschirr, nichts mehr hatten, da wusste ich: Ich gehe nach Palästina. Die jüngste Schwester meines Vaters war schon 1913 dorthin ausgewandert. Sie hatte geahnt, was in Deutschland auf sie zukommen würde. Sie hat die Reise für mich bezahlt. Ich hätte mir das sonst nicht leisten können. Als ich sie damals anrief und ihr erzählen wollte, dass ich komme, da sagte sie nur: Du brauchst nichts erklären. Besorge dir deine Papiere und komme.
Meine Eltern mussten in Italien bleiben, sie hatten kein Geld für die Überfahrt. Von März 1940 bis Februar 1944 wurden sie dort versteckt, dann hat man sie gefunden, nach Auschwitz gebracht und ermordet. Von ihrer Geschichte und ihrem Tod habe ich erst viele Jahre später erfahren, zufällig. Ich stand als Polizistin auf der Straße in Tel Aviv, als eine Frau, die meine Eltern in Italien kennengelernt hatte, mich erkannte – sie hatte Bilder von mir gesehen. Sie rannte auf mich zu und erzählte mir die Geschichte meiner Mutter und meines Vaters. Wenn ich heute über meine Familiengeschichte rede, betone ich oft, dass ich mich nicht als Opfer fühle. Außerdem habe ich mir im Laufe meines Lebens eine Eigenschaft angewöhnt: Ich sage immer, was ich denke.
Nach der Staatsgründung Israels hatte ich zwei Möglichkeiten – entweder zum Militär oder zur Polizei zu gehen. Ein Onkel empfahl mir die Polizei. So wurde ich die erste Polizistin im neuen Staat. Ich mochte das. Ich bin selbstsicherer geworden in dieser Zeit. Eine Uniform verändert einen Menschen. Man wird anders dadurch. Ich bin Verkehrspolizistin gewesen, habe Karriere gemacht in diesem Job. Ich war Unteroffizier, habe an 25 Schulen Verkehrserziehung unterrichtet und mit Schülern geübt. Das war genau das Richtige für mich. Ich wollte immer in den Außendienst. Mein zukünftiger Mann damals war Verkehrsingenieur für Israels Norden. Von ihm hörte ich von einer Gruppe junger Leute, die auf den Zebrastreifen standen und Autofahrer anhielten, wenn Schüler die Straße überqueren wollten. Das machte mich neugierig.
Ich erinnere mich noch gut an die Staatsgründung Israels 1948. Als wir damals die Nachricht vom neuen Staat bekamen, haben wir getanzt und gesungen und bis morgens um fünf Uhr gefeiert. Wir waren Idealisten und haben uns so sehr gefreut, dass wir überhaupt ein eigenes Land hatten. Damals war Israel anders als heute. Ich war froh, dass ich wieder jemand war. In Deutschland wurden wir vor unserer Ausreise so schlecht behandelt. Heute wünsche ich mir oft, dass die Medien nicht nur auf die Probleme in Israel fokussiert wären, sondern auch von den verbindenden Projekten berichten würden.
Bis heute unterrichte ich gerne. Als ich 1957 wieder nach Deutschland gekommen war, habe ich zunächst alles Mögliche gemacht, auch bei einer Bank gearbeitet, bevor ich dann Lehrerin geworden bin. Ich bin nach Europa zurückgegangen, weil das Klima hier besser für mich ist. Am liebsten wäre ich nach England ausgewandert, aber mein Mann wollte lieber hierher. Nach Stationen in Berlin und Frankfurt begann ich mit 46 Jahren in Stuttgart ein Studium und war danach Lehrerin für Bildende Kunst und Technik an einer Sprachheilschule.
Das Lehren ist mir bis heute geblieben: Ich gebe gern mein Wissen über das Judentum weiter. Die Menschen, die heute in Deutschland leben, haben mit Juden kaum Kontakt gehabt. Sie wissen wenig vom Judentum. Manche sind jüdischen Menschen aus den Ländern der GUS begegnet oder Rückkehrern aus den Konzentrationslagern. Viele halten das Judentum für eine Religion mit Verboten. Ich denke, ich kann das Judentum so vermitteln, dass viele Menschen gut verstehen können, worum es geht und was damit gemeint ist. Ich habe sehr strenges Judentum erlebt und kennengelernt. Ich versuche, die Gemeinde darzustellen mit allem, was ich weiß.
Es macht mir dabei nichts aus, über das Schicksal meiner Familie zu sprechen. Wenn ich davon erzähle, fühle ich mich, wie wenn ich neben mir stehen würde. Geblieben ist mir von den Erlebnissen eine gewisse Gefühlskälte. Ich kann bis heute aus Wut weinen, nicht aber aus Trauer.
Die Zeit im neu gegründeten Staat Israel war für mich wie eine zweite Geburt. In Deutschland fühlte ich mich wie Dreck behandelt. Schon allein der Umstand, dass ich 1939 in Palästina einwandern und dort alles sagen durfte, ohne mich umzusehen, ob da jemand hinter mir steht, veränderte mich grundlegend. Als der Staat gegründet wurde und ich die Uniform bekam, war mein Rückgrat kerzengrade geworden. Ich spürte plötzlich: Ich bin jemand, der auch etwas bewegen kann.
Während der Zeit in Uniform sind mir aber auch unangenehme Dinge passiert: Wenn etwa bei verschiedenen Paraden die Straßen von den Einwohnern frei sein mussten, dann war es unser Auftrag, die Menge zurückzudrängen. Das habe ich mit meiner ganzen Kraft getan und bekam dafür zu hören: Du Nazi. Das hat mir aber nichts ausgemacht. Wenn man einen Staat aufbaut, muss da auch eine gewisse Ordnung sein. Und wir waren die Ordnungshüter, die durchgreifen mussten. Das Problem war nur, dass die Menschen, die aus den Konzentrationslagern kamen, darin keinen Unterschied zu den Nazis sahen.
Ich würde sofort wieder nach Israel gehen, wenn mir das Klima dort besser bekommen würde. Ich reise jedes Jahr mehrmals hin, meine Tochter und meine Familie leben dort.

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