Mizwa

Herr und Knecht

Anders als zuvor in Ägypten erhielten hebräische Sklaven im biblischen Israel für ihre Arbeit eine Abfindung. Foto: Thinkstock

Im Wochenabschnitt Re’eh kommt ein weiteres Mal der Fall des jüdischen Knechts (hebräisch: »eved ivri«) zur Sprache: »Wenn dir dein Bruder, der Hebräer, verkauft wird – oder die Hebräerin –, so soll er dir sechs Jahre dienen, und im siebenten entlasse ihn frei von dir« (5. Buch Mose 15,12, siehe auch 2. Buch Mose 21,2). Schon ein oberflächlicher Vergleich zwischen den Passagen in Re’eh und im Wochenabschnitt Mischpatim zeigt, dass wir nicht bloß eine Rekapitulation der Gesetze über den hebräischen Knecht vor uns haben, sondern eine wichtige Ergänzung finden.

Was kommt zu den bereits bekannten Vorschriften hinzu? Eine ganz neue Verordnung: »Und wenn du ihn frei von dir entlässt, so sollst du ihn nicht leer entlassen. Lade ihm auf von deinen Schafen, von deiner Tenne und von deinem Kelter; von dem, womit der Ewige, dein Gott, dich gesegnet hat, sollst du ihm geben« (5. Buch Mose 15, 13–14). Nach der Zählung von Maimonides in seinem Sefer haMizwot stehen hier zwei der 613 Toragebote, und zwar im ersten Vers ein negatives und im zweiten ein positives. Wer seinem Sklaven bei Dienstende kein Abschiedsgeschenk gibt, hat ein Gebot der Tora übertreten. Hat der Herr es getan, so hat er eine Mizwa erfüllt.

Mindestwert Bekommt der ehemalige Sklave ein kleines oder ein großes Geschenk? Es ist bezeichnend für das praktische Denken der talmudischen Meister, dass sie über den Mindestwert der Gabe diskutiert haben. Rabbi Meir vertrat die Ansicht, die Sonderzuwendung müsse mehr als 15 Sela betragen, Rabbi Jehuda meinte 30, und Rabbi Simon sagte 50. Wie die drei Gelehrten ihre jeweilige Meinung begründen, kann man im Talmudtraktat Kidduschin (17a) nachlesen. Maimonides hat in seinem religionsgesetzlichen Kodex (Hilchot Awadim 3,14) entschieden, dass die Geschenke insgesamt mehr als 30 Sela kosten müssen; in der Antike war dies eine beträchtliche Summe.

Im Talmud (Kidduschin 14b) finden wir eine Meinungsverschiedenheit über die Frage, ob alle hebräischen Sklaven Anspruch auf ein Abschiedsgeschenk haben. Auf zweierlei Art kann ein Jude ein Ever (Sklave, Knecht) werden. Im Wochenabschnitt Behar ist von einem verarmten Mann die Rede, der sich zum Sklavendienst verkaufen darf: »Und so dein Bruder bei dir verarmt und sich dir verkauft, so lass ihn nicht Sklavendienst verrichten.

Wie ein Mietling, wie ein Beisasse sei er bei dir, bis zum Jobeljahr diene er bei dir« (3. Buch Mose 25, 39–40). Hingegen ist sowohl im Wochenabschnitt Mischpatim als auch in Re’eh nach rabbinischer Interpretation von einem überführten Dieb die Rede, der nicht in der Lage war, den Wert der gestohlenen Gegenstände zurückzuerstatten. Der Verbrecher wurde durch das Gericht als Sklave verkauft, damit durch den Erlös eine Rückerstattung stattfinden konnte. (Übrigens durfte eine Diebin nicht als Sklavin verkauft werden!)

Da es sich im oben zitierten Vers aus dem Wochenabschnitt Re’eh um einen Mann handelt, der von einem Gericht verkauft wurde, ist es sonnenklar, dass dieser Knecht ein Abschiedsgeschenk erhält. Wie aber steht es um den Armen, der sich verkauft hat? Nach Ansicht der Weisen wird dieser Mann nicht im siebenten Jahr frei, und er erhält zum Abschied auch kein Geschenk. Rabbi Elieser hingegen meint, dass auch derjenige, der sich selbst verkauft hat, im siebenten Jahr frei wird und Anspruch auf eine Gratifikation hat.

Existenzgründung In dieser Kontroverse hat Maimonides wie die Weisen entschieden (Hilchot Awadim 3,12). Es stellt sich die Frage: Warum erhält der eine hebräische Knecht ein Abschiedsgeschenk und der andere nicht?

Rabbiner David Hoffmanns Antwort lautet: »Wahrscheinlich, weil derjenige, der sich selbst verkauft hat, mit dem Kaufgeld seine Existenz gründen kann, während der gerichtlich Verkaufte nichts hätte, wenn der Herr ihn nicht beschenkte.« Diese These passt sehr gut zu der Auffassung von Rabbiner Samson Raphael Hirsch: dass nämlich der Verkauf eines insolventen Diebes in die Knechtschaft als eine tief greifende Rehabilitationsmaßnahme und keineswegs als Strafe zu sehen ist. Damit erklärt Hirsch die erstaunliche Tatsache, dass nur ein Dieb verkauft wird und nicht ein zahlungsunfähiger Schuldner. Das Abschiedsgeschenk ist als ein Beitrag zur Wiedereingliederung in die bürgerliche Gesellschaft zu verstehen.

Im mittelalterlichen Sefer HaChinuch (Mizwa 482) finden wir eine Bemerkung zur Relevanz des Abschiedsgeschenks, die auf den ersten Blick verblüffend ist. Zuerst stellt der Autor zu Recht fest, dass das Gesetz über den hebräischen Knecht nur in einer solchen Zeit gilt, in der das Jobeljahr praktiziert wird – also nicht heute, in unserer Gegenwart. Dann jedoch fügt er hinzu: »Auch in der heutigen Zeit soll, wer einen Juden angestellt hat, der für ihn längere oder kürzere Zeit arbeitet, ihn bei Dienstende mit dem beschenken, womit ihn der Ewige gesegnet hat.« Wie ist diese Anweisung zu verstehen?

Nach Maimonides erhält ein Knecht, der sich selbst verkauft hat, keine Gratifikation – warum sollte dann aber ein heutiger Arbeitgeber Abschiedsgeschenke verteilen? Rabbiner Josef Babad hat in seinem Werk Minchat Chinuch folgende Lösung vorgeschlagen: Der Autor des Sefer HaChinuch gehe an dieser Stelle nicht in den Spuren von Maimonides. Er schließt sich vielmehr der Ansicht anderer an, die wie Rabbi Elieser entschieden haben: Auch derjenige, der sich selbst verkauft, erhält ein Abschiedsgeschenk. Von diesem Standpunkt aus lässt sich dann ableiten, was in unseren Tagen in den Augen Gottes wohlgefällig wäre, nämlich einem jüdischen Angestellten ein Abschiedsgeschenk zu überreichen.

Kontext Ein Problem der Komposition sei hier noch angesprochen: Können wir ergründen, warum die Tora die Gesetze des zum Sklaven verkauften Diebes auf zwei Wochenabschnitte verteilt hat? Warum ist von dem Abschiedsgeschenk erst im Wochenabschnitt Re’eh und nicht schon im früheren Wochenabschnitt Mischpatim die Rede?

Ein zeitgenössischer Bibelexeget, Rabbiner Elchanan Samet, hat folgende Erklärung vorgetragen: Im Wochenabschnitt Mischpatim werden lauter Geschäftsbeziehungen abgehandelt. An dieser Stelle wäre die Rede von einem Abschiedsgeschenk völlig fehl am Platze. Hingegen stehen im Wochenabschnitt Re’eh mehrere Mizwot hintereinander, die man als Formen der Wohltätigkeit bezeichnen kann. In diese Reihe passt auch das Gebot der Gratifikation. Für die geleistete Arbeit hat der Sklave seinen Lohn längst erhalten; die Eingliederungshilfe ist eine unverdiente Guttat.

Im Abschnitt über den hebräischen Knecht heißt es: »Auch wird dich segnen der Ewige, dein Gott, in allem, was du tust« (5. Buch Mose 15,18). Für seinen Glaubensakt der Gratifikation verspricht die Tora dem großzügigen Arbeitgeber den Segen Gottes.

Der Autor ist Psychologe und hat an der Universität zu Köln gelehrt. Zuletzt erschien von ihm das Buch »Verknüpfungspunkte« (2010).

Inhalt
Der Wochenabschnitt Re’eh beginnt mit den eindrucksvollen Worten, die Mosche an das Volk richtet: »Siehe, ich lege heute vor euch Segen und Fluch!« Den Segen erhalten die B’nei Israel, wenn sie auf die Gebote Gottes hören. Der Fluch wird über sie kommen, wenn sie sich nicht entsprechend verhalten und sich fremden Götzen zuwenden. Bei den nachfolgenden Ritualgesetzen geht es unter anderem um die Errichtung eines zentralen Heiligtums, »an dem Ort, den der Ewige, dein Gott, erwählen wird«. Es geht um Schlachtopfer, die Entrichtung des Zehnten (Ma’aser) und um die Erfüllung von Gelübden (Neder). Dann folgen die Speisegesetze mit der Erlaubnis, Fleisch zu essen, das von koscheren Tieren stammt, aber der Verzehr von Blut ist verboten. Zum Schluss werden die Regeln für das Schabbatjahr beschrieben und die Feiertage Pessach, Schawuot und Sukkot sowie die damit verbundenen Vorschriften erwähnt.
5. Buch Mose 11,26 – 16,17

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