Antisemitismus

Nichts wie weg hier

Frankreich
Das Wort »Exodus« prangt auf dem Cover des amerikanischen Nachrichtenmagazins Newsweek. In einem mehrseitigen Bericht erklären Journalisten, warum »die Juden Europa wieder verlassen«. Auch in Frankreich vermitteln die Medien Endzeitstimmung in der jüdischen Gemeinde: Das öffentlich-rechtliche Fernsehen zeigt in den Hauptnachrichten einen Bericht über eine Familie, die nach Tel Aviv auswandert – sie hat mehr Angst vor dem Antisemitismus in ihrer Heimat als vor den Raketen der Hamas auf Israel. Das Nachrichtenmagazin »Nouvel Observateur« widmet den »Juden, die Frankreich verlassen« vier ganze Seiten.

Bedenkt man, dass in Frankreich rund eine halbe Million Juden leben, so ist die Alija natürlich kein Massenphänomen – doch die Tendenz ist eindeutig. Wie immer mehr Gemeindemitglieder glaubt auch Natan Sharansky, Präsident der Jewish Agency, dass das Judentum in Europa keine Zukunft hat: »Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass man Europa vielleicht nach Israel bringen muss – denn nur hier kann man Freiheit und Identität verknüpfen.«

Auch Shmuel Trigano, Professor für Soziologie an der Universität Paris-Nanterre und Autor zahlreicher Bücher über das französische Judentum, zieht eine düstere Bilanz: »Es ist sehr unwahrscheinlich, dass man seine jüdische Identität in Frankreich künftig bewahren kann. Es herrscht eine depressive Stimmung, und viele sitzen auf gepackten Koffern.« Auch er selbst plane, in den nächsten Monaten nach Israel auszuwandern, sagt Trigano.

Seine Kollegin, die Pariser Soziologin Martine Cohen, warnt hingegen: »Wir sollten einen Teil der öffentlich geäußerten Meinungen nicht für die ganze Wahrheit halten und antisemitische Akte nicht verallgemeinern, da sich ansonsten ein Klima der Angst einstellt.« Cohen kritisiert, dass in den Medien häufig nur die Positionen jüdischer Organisationen dargestellt würden, selten aber die von Einzelpersonen. Auch seien die Statistiken zur Alija nicht ausreichend, denn sie bezögen die Zahl der Rückkehrer nicht mit ein. Cohen versichert, sie fühle sich in Frankreich noch immer wohl und habe nicht die Absicht, das Land zu verlassen.

Der Philosoph Alain Finkielkraut spitzt es zu – er sagt: »Der Hass auf Frankreich ist nicht weniger beunruhigend als der Hass auf Juden. Es existiert ein Phänomen der kulturellen Spaltung, das man bekämpfen muss, damit Frankreich lebenswert bleibt.«
Nina Schönmeier

Belgien
Mehrere Wellen von Einbürgerungen illegaler Ausländer haben in den vergangenen Jahrzehnten die Zahl der Belgier mit ausländischem, insbesondere arabischem Hintergrund stark anwachsen lassen. Sie stellen inzwischen bei Wahlen ein gewaltiges Stimmenpotenzial dar. Dementsprechend geben viele Politiker nur allgemeine Sprüche gegen Rassismus und Antisemitismus von sich. Dabei gibt es Vorfälle, die einen lauten Aufschrei erforderten: Wie das Schild vor einem Café in der Nähe von Lüttich, auf das der Besitzer geschrieben hatte: »Eintritt für Hunde gestattet, aber niemals für Juden«. Oder vergangene Woche in Antwerpen: Da weigerte sich ein Arzt, eine betagte jüdische Patientin zu behandeln – und gab ihrem Sohn den Hinweis, sie solle »nach Gaza gehen, dann werden ihr die Schmerzen schon vergehen«.

Der Vorsitzende der Dachorganisation jüdischer Einrichtungen in Belgien (CCOJB), Maurice Sosnowski, glaubt dennoch nicht, dass die belgischen Juden auf gepackten Koffern sitzen. »Wir haben in Westeuropa jedenfalls keinen staatlichen Antisemitismus, und das ist eine wichtige Grundlage«, sagt er. Dementsprechend sehe er es als vorrangige Aufgabe an, die Gemeinsamkeiten zu betonen. So hat er zusammen mit Vertretern muslimischer Gemeinden in Belgien am 18. Juli einen Aufruf zur friedlichen Auseinandersetzung veröffentlicht. Es seien Extremisten, die die Gelegenheit ergreifen, Hass zu schüren, sagt Sosnowski. Diese müsse man bekämpfen – da gebe es noch erheblichen Bedarf an Unterstützung von Politikern.

Eine Umfrage unter Schülern hat ergeben, dass jedes zweite muslimische Schulkind ausgeprägt antisemitische Haltungen zeigt. Hinzu kommt, dass mehr als 30 Prozent der christlichen Schüler antisemitisch eingestellt sind. Viele jüdische Eltern ziehen es daher vor, ihre Kinder nach Möglichkeit auf jüdische Schulen zu schicken, um sie nicht Tag für Tag einem antisemitischen Umfeld auszusetzen. Adonia Moscovici

Niederlande
»In letzter Zeit sind innerhalb einer Woche zweimal Steine in mein Fenster geworfen worden – das hat es früher nicht gegeben«, sagt Binyomin Jacobs, der Oberrabbiner der Niederlande. Fragt man ihn, ob Juden in Holland noch sicher leben können, antwortet er: »Allein die Tatsache, dass man sich solche Gedanken machen muss, ist beängstigend. Aber ich für meinen Teil bleibe hier wohnen – nicht zuletzt wegen meiner Funktion: Denn der Kapitän verlässt das Schiff als Letzter.« Jacobs kennt Familien, die den Wegzug ernsthaft erwägen. Die meisten trauen sich nicht mehr, mit Kippa oder Davidstern auf die Straße zu gehen – sie haben Angst, beschimpft oder angegriffen zu werden.

Das hat Serafina Verhofstad am eigenen Leib erfahren. Sie wollte die israelische Flagge hissen und wurde daraufhin als »dreckige Jüdin« beschimpft und zusammengeschlagen. Mit Rippenbrüchen und einer Gehirnerschütterung musste sie im Krankenhaus behandelt werden.

Rabbiner Jacobs weiß allerdings auch Hoffnungsvolles zu berichten: »Es sind Menschen marokkanischer Abstammung zu mir gekommen, um sich für die Steinwürfe auf mein Haus zu entschuldigen – dabei ist nicht einmal sicher, ob die Täter marokkanischer Herkunft waren.« Er fragt sich manchmal: »Wenn Juden und Araber in Marokko seit Jahrhunderten zusammenleben, warum dann nicht auch in den Niederlanden?« Adonia Moscovici

Grossbritannien
Wie in anderen europäischen Ländern ist auch in Großbritannien die Zahl der Angriffe auf Juden und jüdische Einrichtungen seit Anfang des Kriegs zwischen Israel und Gaza stark gestiegen. Laut dem Community Safety Trust (CST), der für die Sicherheit jüdischer Einrichtungen im Land zuständig ist, hat sich die Zahl der Angriffe mehr als verdoppelt. CST-Sprecher Dave Rich sagt, es handele sich vor allen um Vorfälle, bei denen Personen und Institutionen mit einem direkten Bezug zum Gaza-Krieg angegriffen, beleidigt oder angepöbelt wurden.

Der CST führt dabei auch solche Attacken auf, bei denen im entfernteren Sinne israelische Einrichtungen angegriffen wurden, wie zum Beispiel ein Geschäft in Manchester, in dem Kosmetik aus Israel verkauft wird. Auch Eier und leere Bierflaschen würden auf Juden und jüdische Einrichtungen geworfen, berichtet Rich. Die Täter seien vorwiegend »pakistanischer und arabischer Herkunft«. Zunehmend gäbe es auch verbale Angriffe in den sozialen Medien. »Dennoch ermutigen wir alle Juden in Großbritannien, ihr Leben normal weiterzuführen, wenn auch mit mehr Vorsicht und erhöhten Sicherheitsvorkehrungen«, so Rich.

Viele Juden im Land seien sehr besorgt, denn sie hätten nicht nur Angst um Familienangehörige in Israel, sondern machten sich auch Gedanken über die Beziehungen zu nichtjüdischen Nachbarn und Kollegen. sagt die Oberrabbinerin der Reformjuden in Großbritannien, Laura Janner-Klausner. Sie gibt sich dennoch zuversichtlich, denn »im Gegensatz zu anderen Ländern in Europa schnappen wir hier noch nicht nach Luft«. Das liege vor allem daran, dass Großbritannien traditionell eine tolerantere Gesellschaft sei.

Vivian Wineman, Präsident der jüdischen Dachorganisation Board of Deputies of British Jews, sieht es ähnlich. Er ist der Meinung, dass man die Lage in Großbritannien nicht mit der in Deutschland oder Frankreich vergleichen könne: »Glücklicherweise gibt es hier eine Haltung, die Antisemitismus nicht toleriert«, sagte er.

Dennoch wurde kürzlich in Gateshead im Nordosten Englands ein Rabbiner angegriffen. Und vergangene Woche bei den Festspielen in Edinburgh musste die Show einer israelischen Künstlertruppe aus Sicherheitsgründen abgesagt werden. In Birmingham erzwangen Demonstranten die vorübergehende Schließung eines Supermarkts und forderten, alle israelischen Produkte zu entfernen. Und wie in anderen europäischen Städten begaben sich auch in London Tausende pro-palästinensische Demonstranten auf die Straße. Manche Banner und Rufe waren eindeutig antisemitisch. Allerdings sei es dabei nicht zu derart schweren Ausschreitungen gekommen wie anderswo in Europa, sagte Alan Montague, Politik-Redakteur der Wochenzeitung Jewish Chronicle.

Montague ist der Meinung, dass sich die Juden in Großbritannien nicht so bedroht fühlen, dass sie ans Auswandern denken. »Ich habe hier bisher noch niemanden gehört, der mit Natan Sharansky übereinstimmt, dass das jüdische Leben in Europa am Ende sei«, sagte er. Daniel Zylbersztajn

Film

Ein bescheidener Held

»One Life« erzählt die Geschichte von Nicholas Winton, der Kindertransporte von der Tschechoslowakei nach Großbritannien organisierte

 29.03.2024

New York

Ex-Krypto-König Bankman-Fried soll für 25 Jahre ins Gefängnis

Noch vor zwei Jahren wurde Sam Bankman-Fried als Finanzgenie und Galionsfigur einer Zukunftswelt des Digitalgelds gefeiert. Nun soll er als Betrüger mehr als zwei Jahrzehnte hinter Gittern verbringen

von Andrej Sokolow  28.03.2024

Interview

Der Medienschaffer

Der Ausnahmejournalist und Unternehmer Roger Schawinski über Erfolg, Judenhass und den 7. Oktober

von Nicole Dreyfus  28.03.2024

Nachruf

Joe Lieberman stirbt mit 82 Jahren

Fast ein Viertel Jahrhundert lang setzte er sich als Senator auch für jüdische Belange ein

von Imanuel Marcus  28.03.2024

USA

Bildhauer Richard Serra gestorben

Für mehr als 100 öffentliche Orte schuf er Skulpturen – von Philadelphia und St. Louis bis Bochum und Kassel

 27.03.2024

Moskau

Evan Gershkovich bleibt in Untersuchungshaft

Putin will den inhaftierten US-Journalisten gegen russische Gefangene auszutauschen

 26.03.2024

Glosse

Woher stammt der Minderwertigkeits-komplex vieler Schweizer gegenüber Deutschen?

Und was verbindet die Identitätskarte mit der Rappenspalterei?

von Nicole Dreyfus  25.03.2024

Schweiz

Antisemitismus-Problem an Schulen

Die Zahlen sind erschreckend, doch die Stadt Bern wiegelt ab. Und jüdische Eltern verlieren das Vertrauen

von Nicole Dreyfus  24.03.2024

Großbritannien

»Beste Wünsche für eine Refua Schlema«

Oberrabbiner Sir Ephraim Mirvis und das Board of Deputies wenden sich nach ihrer Krebsdiagnose an Prinzessin Kate

 24.03.2024 Aktualisiert