Spanien

Rückkehrrecht nach 500 Jahren

Aus Kastilien wurden Ende des 15. Jahrhunderts rund 100.000 Juden ausgewiesen. Ihre Habseligkeiten trugen sie in Säcken. Spanische Illustration aus dem Mittelalter Foto: ullstein

Ich habe nicht vor, nach Spanien zurückzugehen, aber ich hätte das Recht dazu, schließlich haben sie uns vor 500 Jahren von dort vertrieben.» Die Stimme von Sima Taranto, einer im Ruhestand lebenden Professorin in Venezuelas Hauptstadt Caracas, klingt tränenerstickt und voller Emotionen. «Wir finden, dass sie uns das schuldig sind.» Wir – das sind die Sefarden, denen nun späte Gerechtigkeit widerfahren soll.

Spaniens Regierung unter dem konservativen Ministerpräsidenten Mariano Rajoy hat ein Gesetz auf den Weg gebracht, das den Sefarden, wie die spanischen Juden auf Hebräisch genannt werden, die Rückkehr in ihre frühere Heimat erlaubt. Justizminister Alberto Ruiz Gallardon sprach von einer historischen Schuld, die endlich abgetragen werde. Viele Sefarden, so der Politiker, hätten aus alter Verbundenheit die Schlüssel ihrer einstigen Wohnungen aufbewahrt, aus denen sie damals vertrieben wurden. Heute stehe ihnen die Tür wieder offen, um als spanische Bürger zurückzukehren, die sie nie hätten aufhören dürfen zu sein.

Prozedere Die Mitarbeiter der zuständigen Behörden sind allerdings ratlos. Sie wissen nicht, auf wie viele Rückkehrwillige sie sich einzustellen haben. «Die Komplexität des Prozesses ist derartig umfangreich, dass sein Ergebnis unmöglich einzuschätzen ist. Die staatlichen Stellen wissen nicht, ob sie mit Tausenden, Zehntausenden oder Hunderttausenden rechnen müssen», schreibt die Madrider Tageszeitung El Pais.

Um nicht völlig unvorbereitet dazustehen, hat man sich vorerst auf die Zahl 90.000 eingestellt. Nach Ansicht des Unterstaatssekretärs im Justizministerium, Juan Bravo, ist dies eine Annahme ohne jeden wissenschaftlichen Ansatz, denn es könnten auch sehr viel mehr sein: «Selbst wenn wir auf 200.000 Rückkehrwillige treffen sollten, macht uns das auch nichts aus, denn wir sind uns bewusst, dass wir vor einer wahrlich geschichtlichen Aufgabe stehen.»

Um die aktuellen Vorgänge jenseits der Pyrenäen richtig einordnen zu können, ist ein Blick in die Vergangenheit sinnvoll. Während der ersten Jahrhunderte der maurischen Besatzung der Iberischen Halbinsel von 719 bis 1492 sicherten die muslimischen Herrscher den Sefarden den rechtlichen Status sogenannter Schutzbefohlener zu, was sie vor Pogromen und willkürlichen Ungerechtigkeiten schützte. Diese Toleranz verstärkte den Zuzug jüdischer Einwanderer. Städte mit einem hohen Anteil jüdischer Bewohner wurden blühende Zentren von Wissenschaft und Handel.

ausschreitungen Doch es sollte nicht so bleiben. Als die maghrebinischen Almohaden von ihren muslimischen Brüdern die Macht übernahmen, kam es gegenüber der jüdischen Bevölkerung zu blutigen Ausschreitungen. Auch die Reconquista brachte keine Besserung, im Gegenteil. Nachdem Isabella von Kastilien und ihr Ehemann Ferdinand von Aragon die Mauren aus Spanien vertrieben hatten, begannen die alten christlichen Vorurteile wieder aufzubrechen, und der Verfolgungsdruck nahm zu. Unter den unheilvollen Einflüsterungen des Großinquisitors Tomas de Torquemada, dem Beichtvater der Königin, fand er im Alhambra- Edikt von 1492 seinen Höhepunkt.

Dort heißt es, da alle früheren Versuche, den «schlechten Einfluss der Juden auf die Christen» zu unterbinden – damit waren die Schaffung von Ghettos, die Inquisition und die Verbannung aus Andalusien gemeint –, gescheitert seien, habe man sich dazu entschlossen, alle Juden, die sich nicht innerhalb der nächsten vier Monate taufen lassen, aus Spanien auszuweisen.

Wie viele Juden daraufhin Spanien und Portugal verlassen haben, ist eine Streitfrage unter Historikern. Die Rede ist von 130.000 bis über 300.000. Laut neuesten Forschungsergebnissen sollen es zwischen 80.000 bis 110.000 in Kastilien und 10.000 bis 12.000 in Aragon gewesen sein. Wie viele Sefarden zum Katholizismus konvertiert sind, lässt sich noch schwerer abschätzen, denn darüber gibt es kaum Quellen.

flüchtlingsstrom Der Flüchtlingsstrom ergoss sich ins benachbarte Frankreich, nach Italien, Nordafrika, den Balkan, Griechenland und den Nahen Osten. Ein Teil der Flüchtlinge suchte sein Glück in Amsterdam, aber auch im weiter nördlich gelegenen Hamburg. Man schätzt, dass heute rund 3,5 Millionen Juden sefardische Wurzeln haben.

Viele Nachfahren der Juden aus Spanien leben heute in Israel. Refael Shmuel, Professor für Literatur und jüdische Geschichte an der Bar-Ilan-Universität, geht davon aus, dass es zwischen 350.000 und 500.000 sind. In Nord- und Südamerika sowie in Europa schätzt er die Zahl der Sefarden auf 200.000 bis 300.000. «Aber das sind lediglich Schätzungen», betont er.

Joshua S. Weitz, Biologe am Polytechnikum des US-Bundesstaates Georgia, glaubt, dass diese Zahlen dramatisch höher angesetzt werden müssen. Er hat ein mathematisches Modell entworfen, das die jüdische Identität nach 1492 berechnet und kommt zu dem Schluss, dass von den 13 Millionen gegenwärtig weltweit lebenden Juden 99 Prozent Vorfahren haben, die aufgrund des Alhambra-Edikts von der Iberischen Halbinsel verwiesen wurden. «Es gab sehr viele ›Mischehen‹ zwischen Aschkenasen und Sefarden. Und wenn wir 500 Jahre zurückgehen, dann hat jeder Jude Tausende von Vorfahren, weil das Wachstum exponentiell anzusetzen ist», erklärt er.

Bedingungen Neben der großen unbekannten Zahl der Rückkehrwilligen stehen die spanischen Behörden noch vor einer weiteren Frage: Wer hat überhaupt das Recht auf einen spanischen Pass? Mit anderen Worten: Wie lässt sich heute, nach einem halben Jahrtausend, herausfinden, dass jemand tatsächlich von Sefarden abstammt? Das Innenministerium in Madrid hat einen vorläufigen Katalog entworfen, und die Tageszeitung El Pais hat ihn abgedruckt.

Danach gilt als Sefarde, wer unter anderem nachweisen kann, Mitglied einer jüdisch-sefardischen Gemeinde zu sein, wer über Kenntnisse des Ladino, der mittelalterlichen jüdisch-spanischen Sprache, verfügt und eine Geburts- oder Heiratsurkunde seiner Familie in kastilischer Sprache vorweisen kann. Einen Antrag auf Einbürgerung können außerdem all diejenigen stellen, deren Nachname sich auf Listen sefardischer Familien findet, die den besonderen Schutz Spaniens genossen haben.

Einen Pass kann außerdem bekommen, wer Zuwendungen zugunsten von Spaniern oder spanischen Institutionen geleistet hat, wer durch weitere Umstände seine spezielle Verbundenheit mit Spanien belegen kann oder wer einen Nachweis der Föderation der jüdischen Gemeinden Spaniens (FCJE) vorlegen kann. Gute Chancen, einen spanischen Pass zu bekommen, haben außerdem Antragsteller, deren Familienname auf eine sefardische Linie schließen lässt. Alle Bewerber, die nicht aus Südamerika stammen, müssen eine Sprachprüfung ablegen. Für das gesamte Prozedere ist eine einmalige Gebühr von 75 Euro fällig. Die Antragsfrist beträgt vier Jahre.

symbolkraft
Nach Angaben von FCJE-Präsident Isaac Querub haben sich bei seiner Organisation bislang rund 6000 Personen gemeldet, die Interesse an einem spanischen Pass haben. Für ihn offenbart das Angebot Madrids nicht nur eine große Symbolkraft, sondern es führt auch zu einem höchst praktischen Nutzen, denn damit könnten Juden Staaten verlassen, in denen sie unwillkommen oder gar gefährdet seien. Querub glaubt, dass die Mehrheit der Antragsteller aus der Türkei und aus Venezuela kommen wird. Vor allem das südamerikanische Land droht gegenwärtig von einer Welle der Gewalt und der wirtschaftlichen Katastrophenmeldungen in den Abgrund gespült zu werden.

Ob sich die Antragsteller allerdings in Spanien mit seiner Arbeitslosenquote von 25 Prozent (Jugendarbeitslosigkeit mehr als 50 Prozent) niederlassen werden, ist fraglich. Ein spanischer Pass berechtigt zur Arbeitssuche in der gesamten Europäischen Union, sodass es in dieser Hinsicht lohnendere Ziele gibt. Vielen Interessenten geht es vor allem um die Freizügigkeit, die mit einem EU-Reisedokument verbunden ist. Albert Hatem, Ingenieur aus Istanbul, betont stellvertretend für viele andere: «Ich möchte das Recht haben, frei durch Europa zu reisen.»

Antisemitismus «Für uns Juden sefardischer Abstammung ist Spanien zusammen mit Israel das gemeinsame Haus. Spanien ist ein Land, in dem wir uns gut integrieren. Die Leute sind gastfreundlich. Für Spanien wäre es von Vorteil, wenn es den jüdischen Wesenszug, den es vor der Vertreibung hatte, nun zurückbekommen würde», sagt Isaac Querub.

Auf die Frage, ob ihn die antisemitischen Vorfälle der vergangenen Tage und Wochen nicht beunruhigen, antwortet der FCJE-Präsident: «Uns überraschen die Angriffe in den sozialen Netzwerken. Ja, es existieren Vorurteile und stereotype Zuschreibungen. Aber dennoch bin ich der festen Überzeugung, dass Spanien kein antisemitisches Land ist.»

Nach Ansicht von El Pais ist die jüngste Entwicklung in einen besonderen Kontext einzuordnen, nämlich in den einer wachsenden Selbstbehauptung der sefardischen Lebenswelt. «Nach Jahrzehnten der Unterordnung unter die Dominanz der Aschkenasim zeigen die orientalischen Juden eine wachsende politische, soziale und kulturelle Kraft. Das, was die Sefarden geschaffen haben, wird nun vom Judentum weltweit wahrgenommen», schreibt das Blatt.

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