Berlin

Orthodox in Mitte

Wenn die Mitglieder der Kahal Adass Jisroel durch Mitte laufen, treffen sie häufig auf bekannte Gesichter. Denn fast alle in der jungen Gemeinde wohnen in der Nähe der Synagoge, Eltern bringen ihre Kinder in den Lauder Nitzan Kindergarten, und viele studieren in der Jeschiwa Beis Zion in der Brunnenstraße oder in der Midrascha in der Kastanienallee. Die räumliche Nähe zu den Einrichtungen der Ronald S. Lauder Stiftung ist zwar groß, doch die Kahal Adass Jisroel, die am Dienstagabend in der Brunnenstraße gegründet wurde, sei weitestgehend eigenständig, betonen ihre Mitglieder.

Etwa 70 Familien sind es, die sich auf die Ideen von Rabbiner Esriel Hildesheimer, der im 19. Jahrhundert die Gemeinde Adass Jisroel gründet hatte, berufen. Hildesheimer versuchte, jüdische Tradition und moderne Zeit unter einen Hut zu bringen. Das Motto dafür lautete: »Tora im derech erez«, Tora in Verbindung mit der Lebensweise des Landes. Ein Pfeiler der jungen Gemeinschaft, deren Mitglieder kaum älter als 50 Jahre sind. Die meisten sprechen Deutsch, »viele haben Eltern, die aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion stammen«, sagt Michelle Berger, Mitglied in der Gemeindeleitung. Bereits im April 2013 hatte sich die Kahal bei einer Mitgliederversammlung als Verein gegründet und erste Strukturen für eine Gemeinde aufgebaut.

Tradition Von der offiziellen Gründungsfeier am Dienstagabend könnte man, betont Berger, »auch sagen, es sei eine Wiedergründungsfeier der Adass Jisroel von vor der Schoa«. Denn die Gemeinschaft erhebt den Anspruch, mit ihrer Mischung aus Modernität und Tradition das Erbe der historischen Adass-Jisroel-Gemeinde anzutreten, und knüpft damit an eine Tradition des deutschen orthodoxen Judentums an, die in der 1869 gegründeten Israelitischen Synagogen-Gemeinde (Adass Jisroel) zu Berlin ihren Anfang nahm.

Zu der bereits bestehenden Adass-Jisroel-Gemeinde bestehe nach Angaben von Berger kein Kontakt. »Es gibt keine Konkurrenz zwischen ihnen und uns. Wir kennen sie nicht. Ich weiß auch nicht genau, wo sie ihre Synagoge haben«, sagt auch Rabbiner Meir Roberg. Zudem ist er überzeugt, dass sich die wahren Erben der Orthodoxie in seiner Synagoge in der Brunnenstraße befinden. »Unsere Art, das Judentum zu leben, ist einzigartig in Deutschland. Auch Hildesheimers Nachkommen stehen voll hinter uns.« Die leben in den USA und haben der Wiedergründung ihren Segen gegeben.

»Bei uns halten sich alle Mitglieder an die Gebote«, sagt Michelle Berger. »Jede Familie bei uns ist religiös.« In anderen orthodoxen Synagogen gebe es zwar auch religiöse Familien, aber daneben säkulare Beter. Viele Eltern seien mit ihren Kindern in die Gegend der Brunnenstraße gezogen, um hier ein orthodoxes Leben führen zu können. Michelle Berger ist mit Mann und Kindern sogar eigens nach Berlin gekommen. In der Tat bietet die Gegend neben einem Kindergarten auch die Lauder Beth-Zion Grundschule und ein koscheres Lebensmittelgeschäft.

Pflicht Was es heißt, modernes Leben und jüdische Tradition zu verbinden – das lässt sich nun täglich bei der Kahal Adass Jisroel beobachten. In der Gemeinde gibt es nicht nur drei Gottesdienste am Tag, sondern sogar acht, damit möglichst viele Beter Beruf und religiöse Pflicht miteinander kombinieren können. Unter der Woche nachmittags um drei sind erstaunlich viele Männer in der Synagoge, sprechen im Stehen und jeder für sich das wichtigste Gebet, die Amida, verbeugen sich jedes Mal, wenn sie sagen: »Gelobt seist Du, Ewiger ...« Dann setzen sie sich.

Ein Stockwerk höher befindet sich die Frauenempore. Dort ist es nachmittags eher leer. »Die Frauen müssen ihre Kinder aus dem Kindergarten abholen«, sagt Zippora, eine junge Mutter. »Das tun allerdings auch Männer. Viele Frauen arbeiten.« Miriam Feldmann ergänzt, dass das gemeinsame Gebet in der Synagoge eine Männerpflicht sei. »Frauen haben die Freiheit, das zu Hause zu tun. Ich muss nicht mit so vielen Männern zu einer bestimmten Uhrzeit in der Synagoge sein. Ich muss auch nicht versuchen, Konzentration zu finden, während andere unruhig sind oder niesen. Ich kann beten, wann ich möchte.«

Wer mangelnde Gleichberechtigung in der Orthodoxie beklage, habe einen verengten Blick, denn die wichtigsten Aufgaben im Judentum hätten alle mit der Frau zu tun. Das seien der Schabbat, die koschere Küche und die Mikwe, beschreibt Feldmann. Eine Mikwe für Kahal Adass Jisroel ist noch im Bau. Bislang nutzen die Frauen das Tauchbad einer anderen Synagoge in der Nähe.

Scheitel Neben Rabbiner Daniel Fabian und Doron Rubin ist Michelle Berger eine der Mitinitiatorinnen der Kahal. Sie ist verheiratet, Mutter, berufstätig und trägt selbstbewusst ihren Scheitel. »Sobald ich das Haus verlasse, bedecke ich mein Haar. Trotzdem stehe ich meine Frau im Beruf. Es gibt da keinen Widerspruch«, sagt die Marketingberaterin. Vielen Kollegen falle es gar nicht auf, dass sie eine Perücke trage, und Kommentare gebe es nicht.

Auch Miriam Feldmann, die als Regierungsinspektorin arbeitet, muss in ihrem beruflichen Alltag keine Kompromisse machen: »Bedeckte Haare gelten in der öffentlichen Verwaltung als Religionsbekenntnis«, erzählt sie. »Ein Kopftuch würde bei Publikumsverkehr ungern gesehen, aber eine Perücke ist kein Problem, solange die Bürger nicht sehen, dass es sich um eine Kopfbedeckung handelt.«

Doron Rubin ist Jurist und arbeitet an einer Universität. Seinen Alltag als orthodoxer Jude mit dem Job zu verbinden, ist relativ unkompliziert: »Es ist sicher nicht böse gemeint, wenn mir eine Frau die Hand hinhält«, sagt er. Herausforderungen gibt es trotzdem. Meir Roberg, Rabbiner bei Kahal Adass Jisroel, sagt: »Es ist gar nicht so einfach, wenn man an all die religiösen Pflichten denkt, die Juden erfüllen müssen. Aber das ist unser Anspruch.« Religiöse Tradition und moderne Welt miteinander verbinden – die Mitglieder von Kahal Adass Jisroel leben das täglich.

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