Persönlich

Verbotene Liebe

Für den neunjährigen Jungen war es bereits Schlafenszeit gewesen, als die Mutter plötzlich die Kinderzimmertür öffnete und rief: »Komm, Israel hat den Grand Prix gewonnen.« Und das Kind tappte im Schlafanzug hinüber ins Wohnzimmer, wo der neu erworbene Fernseher selbstverständlich auf die Westprogramme eingestellt war und nun eine entfernt an die Sängerin Paola (sein Liebling zu dieser Zeit) erinnernde Israelin präsentierte, deren drei Mitsänger ganz in Weiß auftraten, mit glitzernden Hosenträgern und fescher Fliege. Was für ein schönes Lied, dachte der Junge, sich noch Sand aus den Augen reibend, während er auf der von seinem Vater höchstselbst gefertigten Couch hin und her wippte, zum melodischen Swing: »Halleluja ba-balam!«

Zwölf Jahre später, im Sommer 1991, würden ihm deshalb die Tränen kommen, als aus dem Bordlautsprecher der spätnachts auf dem Ben-Gurion-Flughafen gelandeten Arkia-Maschine plötzlich dieses Lied, sein Lied, erklang, die Passagiere in die Hände zu klatschen begannen und die von den Stewardessen geöffneten Türen tropisch heiße Luft herein ließen. Begeistert sang er mit, bis sich seine gleichaltrige Sitznachbarin (eine junge deutsche Jüdin aus Pforzheim – das Gedächtnis hat alles gespeichert) zu ihm herüberbeugte und flüsternd korrigierte: »Ha-Olam, nicht Ba-Balam. Ein Halleluja der ganzen Welt, das heißt es ...«

fairness Heute, mit dem Abstand weiterer Jahrzehnte, frage ich mich, was meine Mutter damals dazu gebracht hatte, mich voller Begeisterung zu wecken. Hätte sie Gleiches getan, wenn Deutschland oder Frankreich jene douze points erhalten hätten? Da gab es wohl irgendetwas in dieser sächsischen Provinz, das offiziell nicht vorgesehen war: ein Gefühl von Fairness vielleicht, dass es das kleine, so oft gescholtene und verleumdete Land mit einem beinahe unscheinbaren Lied geschafft hatte, die Mauern des Hasses zu schleifen – wenigstens einen Abend lang.

Dagegen tauchte auf den Zeitungsfotos des regionalen Parteiorgans »Freie Presse« regelmäßig Arafat im Kampfdrillich auf, die dicke Unterlippe auf Honeckers Wange gedrückt, oder beide Seit’ an Seit’ bei den SED-Parteitagen, die Fäuste in der Höhe.

Die Nachrichten der Tagesschau vermeldeten freilich anderes, und viele Gelegenheiten gab es, dass mein Vater sagte: »Da hamse wieder gesprengt und entführt, die Palästinensler – kein Wunder, dass sich dann die Israelis wehren.« Solche Kommentare hört das Kind, dazu die von den Erwachsenen halblaut-ehrfürchtig gemurmelten Bemerkungen, die Daliah Lavi wäre ja ebenso Jüdin wie der Hans Rosenthal von Dalli-Dalli, außerdem hatte man im DDR-Fernsehen Die Bilder des Zeugen Schattmann und im Kino Jakob der Lügner gesehen, rare Filme, in denen jenseits des pompösen »Antifaschismus« die Grauen der Schoa ein Thema sein durften.

bibel Weshalb aber hatte es dann »in der Versammlung« geheißen, man solle die Fernsehserie Holocaust lieber nicht anschauen? Nur ein Gerücht oder tatsächlich eine Weisung aus dem wöchentlich in klandestiner Wohnzimmerrunde gelesenen »Wachtturm«? Ich weiß es nicht mehr, erinnere mich nur an die frühe kindliche Ausweich-Sehnsucht, die mich in der »Neue Welt-Übersetzung« der Zeugen Jehovas-Bibel (aus dem westdeutschen Taunus in die DDR geschmuggelt) immer wieder auf den bunt kartonierten Innenumschlag schauen ließ, auf die Karte des Mittelmeers und an dessen östlichen Rand auf jene Städte: Jaffa, Jerusalem, Beerscheba.

Aufgewachsen also als Kind von Zeugen Jehovas in der DDR – dem Verein jedoch bereits mit 16 Jahren den Rücken gekehrt, ehe es dann zwei Jahre später Zeit war, den Kriegsdienst zu verweigern und die Ausreise aus der DDR zu beantragen – muss ich mir heute eingestehen, dass es ein ganz bestimmter Kick war, der von jenem Land ausging, jenseits der hochfahrenden Sekten-Selbstbeschreibung als »himmlisches Israel«.

Was reizte, war wohl eher die Exotik der Geografie, der Anhauch sinnlichen Südens und im Hintergrund jene noch dem Agnostiker von heute absolut präsenten Bibelgeschichten. Die Wehrhaftigkeit des Landes: War nicht schon nach der Rückkehr aus dem babylonischen Exil der Rat ergangen, den Wiederaufbau des Tempels so zu gestalten, dass in der einen Hand das Handwerkszeug lag und in der anderen die Verteidigungswaffe?

Und was den Hedonismus à la Tel Aviv betrifft: Hatte nicht das einstige Kind vom jungen Samuel gelesen, der von seiner Mutter Hannah in den Tempel gebracht wurde, wo die Söhne des alten Eli Unzucht trieben? »Was ist Unzucht, Papa?« »Na, eben so Sachen ...« Na, die Elis und Joavs und Danis von heute können da wohl genauere Auskunft geben – auch wenn sie weder die Bundeslade vermissen, als Davids General fungierten oder die Löwengrube überlebt hatten und stattdessen fragen, ob der Tel-Aviv-Fan aus (West-)Berlin mit all seinen Assoziationen nicht ein wenig meschugge sei oder womöglich unter Drogeneinfluss stehe.

insel Dabei verschone ich die Freunde sogar vor weiteren Gedankenverknüpfungen: Auf der Strandpromenade in Tel Aviv zu schlendern und »Haaretz« zu lesen, ist nur vergleichbar mit einem Ku’damm-Flanieren vor dem Mauerfall oder mit der Lektüre der freien »South China Morning Post« auf der Nathan (!) Road in Hongkong – alles drei Exempel eines geradezu unwahrscheinlichen und immer wieder zu verteidigenden Inseldaseins gegen das auch geografisch so Erdrückende der umliegenden Diktatur.

Solcherart also ist die Sache beschaffen und wohl dennoch keine bloße Kopfgeburt. Mögen »proisraelisch« rechte Evangelikale ruhig andere Präferenzen haben und links-verdruckste Philosemiten im Klezmer-Gefiedel schwelgen – meine Liebe zu diesem Land speist sich eher aus dem Zickzack der Erinnerung, in das permanent Gegenwart dringt, wie sie widersprüchlicher – und damit berückender – gar nicht sein könnte. Happy Birthday, Israel sheli!

Von Marko Martin ist vor Kurzem das Buch »Kosmos Tel Aviv. Streifzüge durch die israelische Literatur und Lebenswelt« erschienen. (Wehrhahn , Hannover 2013, 234 S., 19, 90 €)

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