Gaza-Konflikt

»An Frieden glaubt in Israel niemand mehr«

Der Schriftsteller Etgar Keret über die Waffenruhe mit der Hamas, politische Konsequenzen und einen möglichen Präventivschlag gegen den Iran

von Philipp Peyman Engel  23.11.2012 13:43 Uhr

»Es war und ist eine verdammt harte Zeit«: Etgar Keret Foto: CC

Der Schriftsteller Etgar Keret über die Waffenruhe mit der Hamas, politische Konsequenzen und einen möglichen Präventivschlag gegen den Iran

von Philipp Peyman Engel  23.11.2012 13:43 Uhr

Herr Keret, nachdem der Gaza-Konflikt vergangene Woche eskalierte, haben Israel und die Hamas sich am Mittwoch auf eine Waffenruhe geeinigt. Glauben Sie, dass diese von Dauer sein wird?
Nein, an die Möglichkeit eines dauerhaften Friedens glaubt in Israel niemand mehr. In den vergangenen Jahren haben die militanten Palästinenser mehr als 10.000 Raketen auf uns abgefeuert. Das wird so schnell nicht aufhören. Sobald die Hamas ihre Bestände wieder aufgerüstet hat, gehen die Bombardierungen von vorne los.

Wie ist angesichts dieser Lage die Stimmung im Land?
Es herrscht mehr Verzweiflung denn Angst. Keiner hat eine Antwort auf die Frage, wie es zu einer Einigung mit der Hamas kommen könnte. Vermutlich gibt es auch gar keine Lösung. Man kann nicht mit jemandem Frieden schließen, der einen auslöschen möchte.

Wie haben Sie persönlich die vergangenen Tage erlebt?
Es war und ist eine verdammt harte Zeit. Israel wurde massiv bombardiert. Das geht nicht spurlos an einem vorbei. Was soll man zum Beispiel antworten, wenn man von seinem weinenden siebenjährigen Kind gefragt wird, warum die Hamas uns vernichten will?

Sie wurden in Tel Aviv geboren, sind dort aufgewachsen und leben nach wie vor da. Haben Sie es für möglich gehalten, dass die Hamas mit ihren Raketen auch Tel Aviv erreicht?
Nein, das ist eine ganz neue Qualität. Bisher war ja eher Südisrael betroffen. Viel mehr jedoch war ich davon überrascht, dass auch Jerusalem bombardiert wurde. Das zeigt einmal mehr, wie zynisch die Hamas ist: Sie hätten ohne Weiteres auch einen heiligen Ort für die Muslime treffen können. Ihre Raketen sind alles andere als zielsicher.

Viele Medien in Deutschland unterstellen Israels Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu, er hätte wegen der bald anstehenden Wahlen gerade jetzt auf den Dauerbeschuss der Hamas reagiert.
Das ist Quatsch. Netanjahu verhält sich in militärischen Dingen eher zurückhaltend. Zudem hat er in den vergangenen Tagen durchaus klug agiert – und das sage ich als jemand, der bekanntlich kein Unterstützer Netanjahus ist. Mit der Waffenruhe, die er nun eingegangen ist, macht er sich jedenfalls keine Freunde. Die Mehrheit der Israelis fordert den Einsatz von Bodentruppen im Gazastreifen, um den Beschuss durch die Hamas ein für alle Mal zu unterbinden. Netanjahu hat dem nicht nachgegeben.

Wie wird sich das auf die Wahlen auswirken?
Wenn es überhaupt Konsequenzen für Netanjahu haben wird, dann verlieren er und der rechte Flügel ein paar Stimmen. Die Waffenruhe wird zwar von vielen Likud-Wählern als ein Akt der Feigheit angesehen, aber die Wahlen wird Netanjahu dennoch klar für sich entscheiden. Unabhängig davon glaube ich, dass Netanjahus wahre Gründe für die Operation woanders zu suchen sind – und die hat er erreicht.

Inwiefern?
Ich glaube, dass der Beschuss des Gazastreifens der erste Schritt in dem Schachspiel gewesen ist, das Netanjahu mit den Iranern spielt. Er wollte, dass die Hamas ihre Raketenbestände so leer wie möglich bombt, damit Israel im Falle eines Präventivschlags auf die iranischen Atomanlagen nicht auch noch zeitgleich Angriffe der Hamas abwehren muss. Und für mich ist klar: Ein Präventivschlag auf die iranischen Atomanlangen wird, sei es früher oder später, definitiv kommen.

Das Gespräch führte Philipp Peyman EngeI.

Etgar Keret wurde 1967 in Tel Aviv geboren und ist der bedeutendste Schriftsteller Israels seiner Generation. Er verfasst Kurzgeschichten, Graphic Novels und Drehbücher. Sein aktuelles Buch »Plötzlich klopft es an der Tür« ist im Verlag S. Fischer erschienen. Keret lebt mit seiner Frau und seinem Sohn in Tel Aviv.

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