Umfrage

»Ignoranz kennt keine Grenzen«

Strafbar? Vor Kurzem feierten die Freiburger in ihrer Synagoge eine Brit Mila. Foto: Leonid Kogan

Seit Wochen tobt nun schon die Debatte um die Beschneidung von unmündigen Jungen. Viel zu kurz kam dabei die Frage, wie die Betroffenen selbst, Juden in der Bundesrepublik, über die Brit Mila und ihr mögliches Verbot denken. Wie tief die Verunsicherung ist, zeigt nicht zuletzt die Geschichte eines jungen Ehepaars, das dieser Tage seinen Sohn beschneiden ließ. Aus Angst, für ihr Handeln strafrechtlich belangt zu werden, haben sie ihre Auskunft für unsere Umfrage zurückgezogen. Was andere über die Beschneidungsdebatte denken und wie wichtig ihnen die Brit Mila ist, beschreiben sie hier:

»Latenter Antisemitismus«
Mich stören die Doppelstandards. Über Impfungen und Ohrlochschießen spricht keiner. Besonders verletzend sind die Vorurteile und der latente und auch offene Antisemitismus, der in der Debatte zum Vorschein kommt. Da macht dann auch das Mitdiskutieren keinen Spaß mehr – wer unterhält sich schon gerne mit Menschen, die meinen, wir seien hinterwäldlerisch und träten Menschenrechte mit Füßen? Interessanterweise wird eine nicht im Verhältnis stehende Vollnarkose gefordert. Dies ist traurig und scheinheilig: Die Deutschen sagen immer, wir gehörten dazu. Anscheinend nur so lange, bis wir unsere Religion ausüben wollen. Zudem hat sich bisher keiner der »Traumatisierten« gemeldet, lediglich die Gemüter der nicht Betroffenen sind überhitzt, und das ausgelöst durch ein muslimisches Kind. Würde es um ein rein muslimisches oder gar christliches Ritual gehen, hätte es diese Diskussion nie gegeben. Irgendwie hat der Deutsche sich am Juden festgebissen, ha- ben sie denn sonst nichts zu tun?
Katharina-Yaël G., Hamburg

»Erschreckend intolerant«
Ob meine Beschneidung bei mir ein Trauma verursacht hat? Nein, traumatisch ist allenfalls die Art und Weise, wie die Debatte um die Beschneidung in Deutschland geführt wird. Jedenfalls hat sie mein Bild der deutschen Öffentlichkeit verändert. Unter dem Deckmantel des Humanismus scheinen sich in den Kommentarspalten auch seriöser Zeitungen Ventile zu öffnen, die Vorurteile und erschreckende Intoleranz zum Vorschein bringen. Da wird die Brit Mila munter mit Genitalverstümmelungen oder »Ehrenmorden« verglichen, die Ignoranz kennt anscheinend keine Grenzen. Dabei bin ich am Anfang der Debatte tatsächlich ins Grübeln gekommen, ob die Beschneidung konstitutiv ist für mein Verständnis vom Judentum, das eher geprägt ist von Gemeinschaftsgefühl und jüdischer Kultur als von biblischen Gesetzen. Die Frage nach der identitätsstiftenden Notwendigkeit der Beschneidung wird mich weiter beschäftigen – Kommentare zu diesem Thema lese ich keine mehr.
Daniel Rotstein, Frankfurt am Main

»Paternalistische Gutmenschen«
Allein die Vorstellung, dass die Brit Mila ein Trauma verursachen könnte, ist lächerlich. Ich bin seit über 30 Jahren Psychotherapeutin und hatte niemals einen Patienten mit einem Beschneidungstrauma in meiner Praxis. Wohl aber habe ich viele Kinder von Holocaustüberlebenden behandelt, die unter Traumata litten. Schon allein aufgrund seiner Geschichte sollte Deutschland lieber zur Beschneidung schweigen – selbst wenn die Einwände gegen die Brit Mila zutreffen würden, was allerdings nicht der Fall ist. Die Beschneidungsgegner sind Gutmenschen, sie wollen vermeintliche Schmerzen vom Kinde abwenden, übergehen in ihrem Paternalismus aber vollkommen die Betroffenen. Dass sie damit gleichzeitig jüdisches Leben in Deutschland unmöglich machen, weil sie ein zentrales identitätsstiftendes Merkmal verbieten, das ist ihnen nicht bewusst.
Esther Goetzl, Bochum

»Einseitige Debatte«
Meine Frau und ich sind vor drei Monaten Eltern eines Sohnes geworden. Wir haben ihn aus religiösen Gründen beschneiden lassen – wohl wissend, dass es auch aus medizinischer Sicht gute Gründe dafür gibt. Die Beschneidung durch einen Mohel fand im Rahmen einer kleinen, familiären Feier statt, und nach drei Tagen war der Schnitt komplett verheilt. Den Diskurs hier in Deutschland um die Beschneidung verfolge ich mit Kopfschütteln. Die Intensität der Diskussion und die Schärfe der Verurteilung der Brit Mila ist kaum rational zu erklären. Das Kölner Urteil wird dabei oft vorsätzlich missinterpretiert. Es muss zum einen am deutschen Judenknacks liegen und zum anderen daran, dass es um ein Geschlechtsteil geht. Ohrlöcher bei Kleinkindern hätten nie ein solches Empörungspotenzial, obwohl sie eine sichtbare Körperverletzung darstellen und dazu noch keine medizinischen Vorteile haben.
Eliyah Havemann, Jerusalem/Hamburg

»Alte Vorurteile«
Ich empfinde die Debatte um die Beschneidung als äußerst unangenehm, besonders dann, wenn die Brit Mila mit der Genitalverstümmelung bei Mädchen gleichgesetzt wird. Nach meinem Empfinden kommen bei dieser Diskurs auch die alten Vorurteile über Juden wieder hoch. Von der Beschneidung ist es dann nicht mehr weit bis zum Christenkind, das von uns zu Pessach geschlachtet wird. Als Mutter zweier Söhne und Kinderärztin habe ich kein Problem damit, mich in diesem Lande für die Beschneidung aus religiösem Grunde einzusetzen und von eigenen Erfahrungen zu berichten – keiner der von mir bekannten und auch ärztlich betreuten Jungen wurde durch diesen Eingriff traumatisiert. Im Alter von acht Tagen haben Babys ein viel geringeres Schmerzempfinden als wir Erwachsene. Während der Brit Mila bekommen die Babys koscheren Traubensaft oder Wein, danach eventuell noch ein Schmerzzäpfchen und dann das Wichtigste: die tröstende Mutterbrust.
Marguerite Esther Marcus, Berlin

»Gehört einfach dazu«
Mein 14-jähriger Sohn wurde seinerzeit nicht beschnitten. Wir sind in der Ukraine aufgewachsen, wo Religion früher unerwünscht war und es deshalb keine jüdische Infrastruktur gab. Er entdeckt das Judentum nun aber immer mehr für sich. Es kann also durchaus sein, dass er sich im Zuge dieser Besinnung für die Beschneidung entscheiden wird. Reinreden tue ich ihm dabei natürlich nicht. Ich finde, dass ist einzig und allein seine Entscheidung. Wenn meine Frau jedoch heute in Deutschland einen Sohn bekäme, würde ich ihn selbstverständlich beschneiden lassen. Besonders religiös bin ich zwar nicht, und es kommt vor allem darauf an, dass das Herz und die Seele jüdisch sind. Die Brit Mila aber gehört zum Judentum einfach dazu. Ein Jude, der nicht beschnitten ist? Eine befremdliche Vorstellung.
Mykhaylo Matviyenko, Essen

»In guten Händen«
Ich bin Rabbinerin Gemeinden Oldenburg und Delmenhorst in Niedersachsen, zurzeit befinde ich mich jedoch in Elternzeit. Vor drei Monaten wurde mein erster Sohn geboren, und es stand überhaupt nicht zur Debatte, ob wir ihn beschneiden lassen oder nicht. Sobald wir wussten, dass es ein Junge wird, haben wir Kontakt zum Mohel, Rabbiner Reuven Yaakobov aus Berlin, aufgenommen und gefragt, ob er bereit wäre, für eine Brit Mila die weite Reise auf sich zu nehmen. Er hat sofort zugesagt. Der Tag selbst war sehr aufregend und ich voller gemischter Gefühle. Sicherheit gab mir jedoch die Gewissheit, dass mein Sohn bei einem traditionellen Mohel in guten Händen ist und G’tt seine Hände schützend über beide halten wird. Zur Brit Mila kamen viele Menschen, sogar das Fernsehen war da. Nach der Beschneidung waren wir bei einem Urologen zur Nachuntersuchung. Er hat den Schnitt mit Faszination begutachtet und gesagt: »So schön würde ich das auch gern mal hinkriegen.«
Rabbinerin Alina Treiger, Oldenburg

Sportcamp

Tage ohne Sorge

Die Jüdische Gemeinde zu Berlin und Makkabi luden traumatisierte Kinder aus Israel ein

von Christine Schmitt  18.04.2024

Thüringen

»Wie ein Fadenkreuz im Rücken«

Die Beratungsstelle Ezra stellt ihre bedrückende Jahresstatistik zu rechter Gewalt vor

von Pascal Beck  18.04.2024

Berlin

Pulled Ochsenbacke und Kokos-Malabi

Das kulturelle Miteinander stärken: Zu Besuch bei Deutschlands größtem koscheren Foodfestival

von Florentine Lippmann  17.04.2024

Essay

Steinchen für Steinchen

Wir müssen dem Tsunami des Hasses nach dem 7. Oktober ein Miteinander entgegensetzen

von Barbara Bišický-Ehrlich  16.04.2024

München

Die rappende Rebbetzin

Lea Kalisch gastierte mit ihrer Band »Šenster Gob« im Jüdischen Gemeindezentrum

von Nora Niemann  16.04.2024

Jewrovision

»Ein Quäntchen Glück ist nötig«

Igal Shamailov über den Sieg des Stuttgarter Jugendzentrums und Pläne für die Zukunft

von Christine Schmitt  16.04.2024

Porträt der Woche

Heimat in der Gemeinschaft

Rachel Bendavid-Korsten wuchs in Marokko auf und wurde in Berlin Religionslehrerin

von Gerhard Haase-Hindenberg  16.04.2024

Berlin

Zeichen der Solidarität

Jüdische Gemeinde zu Berlin ist Gastgeber für eine Gruppe israelischer Kinder

 15.04.2024

Mannheim

Polizei sucht Zeugen für Hakenkreuz an Jüdischer Friedhofsmauer

Politiker verurteilten die Schmiererei und sagten der Jüdischen Gemeinde ihre Solidarität zu

 15.04.2024