Studie

Privilegierte auf Abruf

Die voremanzipatorische Zeit war für Preußens Juden eine Epoche immer weiter eingeschränkter ökonomischer Betätigungsfelder. Trotz der Zeitenwende des Epochenjahres 1789 blieb in Preußen alles beim Alten – es galten weiterhin die Regeln der Ständegesellschaft.

Die Juden wurden nach ihrem ökonomischen Nutzen für den Staat in Klassen eingeteilt. Der König, der seiner Toleranz wegen gerühmt wurde, meinte es mit den Juden nicht gerade gut. Friedrich II. war vom Wunsch beseelt, hohe Abgaben von Juden zu erhalten. Trotz der restriktiven Erlasse wurden die Juden zwar enger an den Staat gebunden, nennenswerte Freiheiten indes boten die Judenedikte nicht.

erfolgsgeschichte Thekla Keuck hat es sich in ihrer voluminösen und unprätentiös geschriebenen Dissertation zur Aufgabe gemacht, die weitverzweigte, fünf Generationen umschließende Berliner Familie Itzig, die mithalf, der Judenemanzipation den Weg zu bereiten, über einen Zeitraum von 140 Jahren zu untersuchen. Die Geschichte der Familie Itzig darf alles in allem als eine deutsch-jüdische Erfolgsgeschichte bezeichnet werden.

Durch eine geschickte Heiratspolitik, den Aufbau eines familialen und europaweiten Netzwerks, erfolgreiche Tätigkeiten als Heereslieferanten und Münzprägungen war es den Itzigs innerhalb von zwei Generationen gelungen, sich einen privilegierten Rechtsstatus zu sichern – und ein Vermögen. Daniel Itzig gehörte mit Veitel Heine Ephraim nach dem Siebenjährigen Krieg zu den »reichsten Israeliten in Europa«. Sie waren so vermögend, dass sie in der Lage waren, den »großen Staatshebel« zu nutzen, sodass sie »den Wechsel-Cours der grösten Handelsstädte nach Gefallen commandirten«.

Sie trugen das alleinige Risiko bei der Silberbeschaffung, dafür wurden sie jedoch in der Öffentlichkeit für die Münzverschlechterungen und die daraus resultieren Folgen verantwortlich gemacht. Sie waren gezwungenermaßen zu einer politischen Manövriermasse der preußischen Potentaten im Machtkampf mit den Ständen geworden, auch wenn sie durch die Finanzierung von Kriegen und durch ihre Finanzkraft im frühindustriellen Prozess eine wichtige wirtschaftspolitische Funktion im absolutistischen Staat innehatten und zur preußischen Wirtschaftselite gehörten.

oberschicht Keuck nennt die Itzigs eine Funktions- und Reputationselite, weil sie durch Besitz und Bildung soziale Prozesse beeinflussen und gesellschaftliche Strukturen verändern konnten. Dies macht Keuck an der Person des »Weltbürgers« Daniel Itzig fest, dem der Sprung in die jüdische Oberschicht ebenso gelang, wie er seine Funktionen als Vorsteher der Jüdischen Gemeinde Berlins, Oberlandesältester der Judenschaften in den preußischen Provinzen, Bankier und Lederfabrikant sowie seine Rolle als Ehemann und Familienoberhaupt erfüllte.

Indes: Auch die Itzigs konnten sich ihres gnädig gewährten Status’ nie ganz sicher sein. Daran änderte auch die Bereitschaft einer Reihe der Familienangehörigen nichts, sich einer Konversion zu unterziehen. Für ihre Umwelt galten sie weiterhin, nicht zuletzt ihres Namens wegen, als Juden. Mit der Konversion brachen sie jedoch nicht notwendigerweise mit der jüdischen Kultur.

Außerhalb Berlins, Potsdams, Königsbergs und Breslaus sah die soziale Realität der Juden ohnehin ganz anders aus. Dadurch, dass für Juden die Abgaben stetig angehoben und die beruflichen Betätigungsfelder immer weiter eingeschränkt wurden, ging es auf der sozialen Leiter nur noch abwärts. In voremanzipatorischer Zeit war es nicht einerlei, ob man als christlicher Untertan oder als jüdischer »Schutzverwandter« von dieser Leiter fiel.

mikroebene Gestützt auf solides Aktenmaterial, gelingt es Keuck überzeugend, die vielfältigen Facetten der bislang ungeschriebenen Itzig’schen Familiengeschichte in eine Gesamtgeschichte zu integrieren, die ein neues Licht auf den allgemeinen Verbürgerlichungsprozess seit dem 18. Jahrhundert wirft. Ihr Augenmerk richtet sie dabei auf die Beziehungen der Itzigs zu den Maskilim, den Wortführern der jüdischen Aufklärung, die sowohl zur Etablierung bürgerlicher Wertvorstellungen innerhalb der jüdischen Gemeinschaft als auch zur Herausbildung einer deutsch-jüdischen Öffentlichkeit beitrugen. Indem Thekla Keuck die Mikroebene (Berlin) auf die Makroebene (die preußische und europäische Ebene) spiegelt, wird die Struktur des Geschehens noch sichtbarer – ein kaleidoskopischer Blick auf die preußische Gesellschaft an sich.

Der Reiz des Buches liegt nicht nur in der sehr klaren und übersichtlich dargestellten Aufarbeitung breiter Archivbestände. Vielmehr liefert Keuck eine Rekonstruktion der zeitgeistigen Verwicklungen, in die die Itzigs – und mit ihnen weitere jüdische Familien – mit dem friderizianischen Zeitalter gerieten und die in einen Akkulturationsprozess mündeten. Die Studie besticht durch ihre hoch informative Sachlichkeit. Und damit liegt eine Monografie über ein zentrales deutsch-jüdisches Thema vor, wobei Keuck souverän über die Materialmassen verfügt.

Meinung

Antisemitische Verschwörungen, Holocaust-Relativierung, Täter-Opfer-Umkehr: Der Fall Samir

Der Schweizer Regisseur möchte öffentlich über seine wirren Thesen diskutieren. Doch bei Menschenhass hört der Dialog auf

von Philipp Peyman Engel  22.04.2024

Essay

Was der Satz »Nächstes Jahr in Jerusalem« bedeutet

Eine Erklärung von Alfred Bodenheimer

von Alfred Bodenheimer  22.04.2024

Sehen!

Moses als Netflix-Hit

Das »ins­pirierende« Dokudrama ist so übertrieben, dass es unabsichtlich lustig wird

von Sophie Albers Ben Chamo  22.04.2024

Immanuel Kant

Aufklärer mit Ressentiments

Obwohl sein Antisemitismus bekannt war, hat in der jüdischen Religionsphilosophie der Moderne kein Autor mehr Wirkung entfaltet

von Christoph Schulte  21.04.2024

TV

Bärbel Schäfer moderiert neuen »Notruf«

Die Autorin hofft, dass die Sendung auch den »echten Helden ein wenig Respekt« verschaffen kann

von Jonas-Erik Schmidt  21.04.2024

KZ-Gedenkstätten-Besuche

Pflicht oder Freiwilligkeit?

Die Zeitung »Welt« hat gefragt, wie man Jugendliche an die Thematik heranführen sollte

 21.04.2024

Memoir

Überlebenskampf und Neuanfang

Von Berlin über Sibirien, Teheran und Tel Aviv nach England: Der Journalist Daniel Finkelstein erzählt die Geschichte seiner Familie

von Alexander Kluy  21.04.2024

Glosse

Der Rest der Welt

Nur nicht selbst beteiligen oder Tipps für den Mietwagen in Israel

von Ayala Goldmann  20.04.2024

Frankfurt am Main

Bildungsstätte Anne Frank zeigt Chancen und Risiken von KI

Mit einem neuen Sammelband will sich die Institution gegen Diskriminierung im digitalen Raum stellen

von Greta Hüllmann  19.04.2024