Deutschlandreport

Unter Kameraden

Vermeintlicher Volksgenosse: »Club 88«-Betreiber Frank (l.) mit Tuvia Tenenbom an der Theke. Im Hintergrund die Reichskriegsflagge Foto: Tuvia Tenenbom

In Hamburg wurde mir erzählt, dass es in Neumünster einen Laden namens »Club 88« gibt. Die Zahl 88 steht für HH, Heil Hitler.

Club 88. Waren Sie jemals da? Von außen sieht er vielversprechend aus. Problem: Er ist geschlossen. Die schwarzen Türen reagieren nicht auf meine Versuche, sie zu öffnen. Aber Juden, kann ich Ihnen verraten, hätten nicht Tausende von Jahren im Exil überlebt, wenn sie nicht geduldig gewesen wären. Ich habe Geduld. Und Geduld zahlt sich aus.

Frank, der Besitzer des Clubs 88, kommt angefahren. Er parkt seinen Wagen und sagt »Heil Hitler!« Wir sind im Geschäft. Er sperrt die Türen weit auf. Und es kommen mehr Leute. Anhänger der Bewegung.

rein arisch Ich erzähle meinen neuen Freunden, dass ich Computeranalyst aus den Vereinigten Staaten bin. Meine Eltern sind beide Deutsche, erkläre ich, aber nach Amerika ausgewandert, als ich ein Jahr alt war. Ich heiße Tobias und bin rassereiner Arier. Nach Deutschland bin ich gekommen, um meine Wurzeln wiederzufinden, außerdem hätte ich gerne eine von den »Club 88«-Mützen, die es in dem Lokal gibt. Den Zuhörern gefällt, was ich sage, ich sehe es an ihren Augen. Ich suche die Mütze aus, in der ich am bescheuertsten aussehe, und setze sie auf. Ah, wie gut, zu seinen Wurzeln zurückzukehren! Sieg Heil, Freunde. Wenn mich nur unser Führer Adolf Hitler jetzt sehen könnte.

Frank scheint mich zu mögen. Möchte ich blauen Likör trinken? Schmeckt sehr gut, sagt er. Alles, was ich mag. Geht aufs Haus. So viel ich will. Der Club 88 heißt seinen verlorenen Sohn willkommen. Tobias. Mich. Frank, muss ich sagen, ist freundlich, sympathisch, lächelt immer und ist sehr herzlich. Und er ist reinlicher als Gott. Während er mit mir redet, entfernt er ständig jeden Schmutzfleck, den er finden kann. Vielleicht hassen die Linken ihn und seine Freunde deshalb.

Möchte ich einen Energy-Drink? Alles für den Gast. Da ich die meiste Zeit meines Lebens leider außerhalb des Vaterlands gelebt habe, ist mir natürlich vieles entgangen. Frank ist gern bereit, die Lücken in meiner kulturellen Sozialisation zu füllen. Er holt Bücher. Hier ist eines über Juden. Mit Bildern, Illustrationen, Tabellen und anderem wissenschaftlichen Kram. Ein Lehrbuch. Keine Fiktion. Das ist Realität.

Judenstempel Hier, zeigt er mir, ist das Bild des jüdischen Teufels. Es ist ein Stempel. Er erklärt: »Die Juden, die die Welt beherrschen, stempeln damit alles, was ihnen gehört. Wenn du diesen Stempel siehst, weißt du, dass du unter der totalen Kontrolle der Juden stehst.« Ob der Stempel mich an etwas erinnere, fragt er. Nicht wirklich. Er holt seinen deutschen Personalausweis heraus, dreht ihn um, dreht auch die Abbildung auf der Rückseite um.

Er legt das Bild neben das in seinem Buch – es heißt, wenn ich mich nicht irre, Das Deutschland Protokoll – und zeigt mir die Ähnlichkeiten zwischen dem jüdischen Teufel und dem Kopf auf der Rückseite des Ausweises. Praktisch identisch. Ob er mir das Bild erklären kann? Gern. Oben zwei Hörner. Juden haben von Natur aus Hörner. In der Mitte unten eine lange Nase, ein weiteres jüdisches Merkmal, wie man auf der ganzen Welt weiß. Ja, der Jude beherrscht Deutschland. Und Amerika auch, falls ich das bezweifelt haben sollte.

Lassen wir mal einen Moment die Juden beiseite. Was hält Frank von Obama? »Obama ist ein Nigger und soll nach Afrika gehen!« Frank kommt wieder auf die Juden zu sprechen, seine wahre Leidenschaft. »Es sind im Zweiten Weltkrieg keine sechs Millionen Juden umgekommen. Man braucht 72 Minuten, um einen Menschen zu vergasen und zu verbrennen. Wie hätte man so viele so schnell verbrennen können? Was ich jetzt sage, könnte mir sechs Jahre Knast einbringen, wenn die Polizei es hören würde.«

Okay, reden wir über Juden. Was soll man mit denen von heute machen? »Sie umbringen!« »Es gibt Millionen Juden in Deutschland.« Wie viele Millionen? »Mindestens eine Million!« Frank kennt sich gut in der Politik aus. Weiß alles. Was hält er von, sagen wir mal, Helmut Schmidt? »Er ist gut.« Ist er Jude? »Nein.« Ich habe gehört, er sei einer. »Wirklich? Scheiße!«

menschenopfer Frank bietet seinem Gast jetzt Bier und Weinbrand an, kostenlos. Er redet weiter. »Die Juden, die sich selbst für Kinder Gottes halten, haben früher ihre eigenen Kinder ihrem Gott geopfert. Das ist eine bekannte Tatsache. Heute nehmen sie Puppen und praktizieren damit ein Opferritual. Als George Bush Präsident war, haben jüdische Führer im Beisein von ihm und anderen Weltpolitikern ein solches Ritual durchgeführt. Es wurde gefilmt und ist auf YouTube abrufbar.«

Wo auf YouTube? Frank öffnet seinen Laptop, um mir den YouTube-Clip zu zeigen. Es dauert. Sehr lange. Er kann den Clip nicht finden. Vielleicht hat ein Jude aus Berlin ihn geblockt. Aber kein Grund zur Sorge. Frank hat den Clip auf DVD zu Hause. Vielleicht komme ich ja wieder. »Hast du den Juden Michel Friedman gesehen? Leicht zu erkennen, dass er Jude ist, wegen seiner Frisur. Juden haben andere Frisuren. Lockige Frisuren. So ist das bei den Juden.« Ich freue mich, wie einfach es ist, Juden zu erkennen.

netter nazi Frank will keinen Ärger, sagt er. Er möchte nur Frieden und Liebe. Deutschland, Österreich, Dänemark und andere Länder müssen vereinigt werden, weil sie ein Land sind, ein Volk. Es ist wichtig, die weiße Rasse zu vereinen und zu schützen. Aber nicht die Polen. Und, übrigens, um der historischen Wahrheit willen, sollte man wissen, dass »Deutschland nie in Polen eingefallen ist. Das ist eine Lüge.

Worauf es ankommt, ist die Familienehre, die Liebe zu den Brüdern und Schwestern, das zählt. Und die Juden loszuwerden, ein für alle Mal. Diese Intriganten, Kreaturen, die ein Märchen über einen angeblichen Holocaust erfunden haben, damit sie aus Deutschland Milliarden von Euro und vier U-Boote auspressen konnten. Und dann, als sie noch mehr Geld wollten, haben sie das World Trade Center bombardiert und die Amerikaner dazu gebracht, für sie zu kämpfen.«

Was mir an Frank am meisten auffällt, ist, dass er eigentlich ein sehr angenehmer und großzügiger Mensch ist. Bevor ich hierher fuhr, wurde ich vor den Gefahren gewarnt, die mir drohen könnten, sobald ich die Schwelle zum Club 88 überschreiten würde. Leute sehen Neonazis im Fernsehen und glauben, es seien Bestien. Von wegen. Frank, wie die anderen Leute in dem Club, ist kein Massenmörder. Ganz im Gegenteil: Er ist freundlich und äußerst herzlich. Er bietet mir Getränke aufs Haus an, kümmert sich ständig um mich und lächelt immer.

gaskammerlied Manchmal singt er gerne. Er trällert mir ein Lied vor, mit einer romantischen Melodie: »Wir haben Krematorien, und in jedem steckt ein kleiner Jude ...« Er lächelt, während er singt. Er hat übrigens eine gute Stimme. Und ich denke bei mir: Wahrscheinlich wurden meine Angehörigen so in den Tod geschickt. Mit einem Lied und einem Lächeln.

Zeit zu gehen. Frank posiert für ein Foto mit mir, dem amerikanischen Computeranalysten. Wir schütteln uns die Hände und umarmen uns. »Ich liebe mein Volk. Ich liebe meine Familie, und ich liebe mein Land«, sagt er mir, bevor ich rausgehe. »Alles, was ich will, ist, sie zu schützen.«

Er ist ein Gläubiger, wie jeder Kirchgänger, den man am Sonntag morgens beim Gebet trifft. Beide wollen das Beste für ihre Familien, beide hängen an ihrem Glauben, und beide, fällt mir jetzt seltsamerweise auf, glauben an tote Juden.

Unsere Wege trennen sich, und ich fahre zurück nach Hamburg.

Tuvia Tenenbom ist Autor und Leiter des »Jewish Theater of New York«. Der Text ist ein übersetzter Auszug aus seinem neu erschienenen Buch »I Sleep in Hitler’s Room: An American Jew visits Germany«, erhältlich bei Amazon.com oder JewishTheater.org. (Taschenbuch 15,99 US-$, eBook 9,99 US-$) Auf Deutsch erscheint das Buch 2012 bei Suhrkamp unter dem Titel »Allein unter Deutschen«, nachdem Rowohlt, wo es ursprünglich herauskommen sollte, etliche zentrale Passagen (darunter dieses Kapitel) nicht veröffentlichen wollte.

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