Justiz

Goldene Mitte

Ausgeglichen: Die Tora verpflichtet dazu, das Gesetz anzuwenden, aber dabei bestrebt zu sein, alle Beteiligten zufriedenzustellen. Foto: Fotolia

Das Leitmotiv dieser Parascha ist die Pflicht, die Gesetze der Tora einzuhalten, so wie es im 5. Buch Moses 4,1 steht: »Nun aber Israel, höre auf die Gesetze und Rechtsvorschriften, die ich euch lehre, dass ihr sie übt, damit ihr lebt und in das Land kommt, das der Ewige, euer G’tt, euer Vater, euch geben will, und es in Besitz nehmt.« Auch in Vers 40 steht geschrieben: »... sollst einhalten seine Gesetze und Gebote«. Anders steht es in Kapitel 6, Vers 18: »Tue, was recht und gut ist.«

Zu Beginn von Vers 1 handelt die Parascha von der Pflicht, die Gebote zu halten. In Vers 18 jedoch wird eine neue Forderung gestellt: Man soll tun, was recht und gut ist. Im ersten Teil haben wir eine Aussage ohne Wertung, Vers 18 jedoch ist nicht wertfrei, sondern es werden zusätzlich zum Gesetz die Aufrichtigkeit und das Gute gefordert. Das Gesetz ist sinnbildlich ein Rahmen, ohne den das Judentum nicht gelebt werden kann. Die Gesetze sind Grundlage für ein Gleichgewicht und eine Ordnung – nicht nur auf die Gesellschaft bezogen, sondern auch auf das Gleichgewicht jedes Einzelnen.

Seele Bei zwischenmenschlichen Auseinandersetzungen sollte die Seele des Gesetzes von Ausgeglichenheit geprägt sein. Das ist oft nur durch Nachgeben zu erzielen. Die Tora verpflichtet uns Juden, das Gesetz anzuwenden, jedoch soll und muss diese Anwendung beseelt und bestrebt sein, alle Beteiligten zufriedenzustellen. Das geht jedoch nur, wenn beide Parteien ein wenig nachgeben.

Raschi versteht Vers 18 als einen Vergleich. Im Talmud-Traktat Sanhedrin wird genau dieses Thema behandelt: »... denn Resch Lakisch wies auf einen Widerspruch hin. Es heißt: Mit Gerechtigkeit sollst du deinen Genossen richten. Dagegen heißt es: Gerechtigkeit, nur Gerechtigkeit sollst du nachjagen. Wie ist dies zu erklären?«

Dafür werden nun zwei Antworten angeführt: Eine erste Auslegung bezüglich der Gerechtigkeit findet sich in Sanhedrin wieder, wenn man weiterliest. Hier heißt es: »Eines gilt von einer betrügerischen Forderung, und eines gilt von einer berechtigten Forderung.« Das heißt: Wenn es sich um eine berechtigte Forderung handelt, so ist der Rechtsstreit klar, die Angaben sind eindeutig und lassen es zu, dass der Richter eine Entscheidung fällen kann.

beweise Die betrügerische Forderung hingegen bedeutet, dass nach dem Gesetz und den Angaben der Richter eine gerechte Entscheidung treffen kann. Hat er jedoch den Verdacht, dass hier ein Betrug vorliegt, für den ihm keine Beweise vorliegen, dann sollte er Recht sprechen gemäß dem Tatbestand. Wenn er so verfährt, kann er in seiner Rechtsprechung nicht kritisiert werden.

Deshalb steht der Vers »Gerechtigkeit, nur Gerechtigkeit sollst du nachjagen«. Dies ist eine Aufforderung für den Rechtsprechenden, intensiv nach Gerechtigkeit zu suchen, um zur Wahrheit zu gelangen. Gerechtigkeit ist sehr komplex, sie steht nicht nur auf der Säule der Gesetzbücher, sondern es wird gefordert, sie mit allen Mitteln zu finden und anzuwenden.

»Rav Aschi erwiderte: Die Lehren sind richtig erklärt, (nicht aber) die Schriftverse. Vielmehr bezieht sich einer auf die gerichtliche Entscheidung und der andere auf den Vergleich. Denn es wird gelehrt: Gerechtigkeit, nur Gerechtigkeit sollst du nachjagen. Wieso? Wenn sich zwei Schiffe auf dem Meer begegnen und beide, wenn sie gleichzeitig vorüberfahren, untergehen, wenn aber nacheinander, durchkommen, oder wenn zwei Kamele über den Bergsteg von Beth Horon gehen und einander stoßen und beide, wenn sie gleichzeitig hinübergehen, abstürzen, wenn aber hintereinander, dann durchkommen – was machen sie nun?

vergleich Ist eines beladen und eines unbeladen, so muss das Unbeladene vor dem Beladenen zurückweichen. Ist eines (dem Ufer) nahe und eines weit (entfernt), so muss das Nahe vor dem Weiten zurückweichen. Sind beide gleich nahe oder gleich weit, so ist ein Vergleich zwischen beiden anzustreben, indem eines an das andere eine Vergütung zahlt.« Warum wird es zwei Mal gesagt, dass wir der Gerechtigkeit und nur der Gerechtigkeit nachjagen sollen? Reicht es nicht aus, es nur einmal zu erwähnen? Rav Aschi erklärt es so: Das erste Wort Gerechtigkeit steht für das Gesetz, das zweite Mal steht das Wort für den Vergleich.

Das Beispiel der Schiffe bringt uns zu folgendem Schluss: Welches der beiden Schiffe ist nach dem Gesetz verpflichtet nachzugeben? Es gibt doch nur Platz für ein Schiff. Dazu steht im Talmud, wenn von beiden Schiffen eines Ladung trägt, das andere aber nicht, so hat das mit der Ladung Vorrang. Wenn das erste Schiff keinen längeren Weg als das zweite vor sich hat, dann hat das zweite Vorrang.

Was aber ist,wenn beide gleich beladen und die gleiche Wegstrecke vor sich hätten? Dazu sagt der Talmud, dass hier auf jeden Fall das Ziel der Vergleich sein muss. Beispielsweise gibt eines dem anderen den Vortritt, wird aber von diesem finanziell entschädigt für entstehende Verluste.

Es muss laut den Gesetzen der Tora ein Weg gefunden werden, dass sich beide Parteien entgegenkommen und bereit sind, Abstriche zu machen. Ein Entgegenkommen ist eine Annäherung an maximale Gerechtigkeit, die anzustreben ist. Gerechtigkeit ist nicht absolut. Das Streben nach Gerechtigkeit ist absolut. Der Mensch muss der Gerechtigkeit nachjagen, um sie zu erlangen. Auch dieses Handeln ist per Gesetz festgelegt. Wir lernen, dass der Vergleich keine minderwertige Lösung ist. Im Gegenteil: Die volle Gerechtigkeit liegt im Vergleich.

Instrument Es muss eine Gesellschaft geschaffen werden, die bereit ist, Vergleiche zu unterstützen, um zur Gerechtigkeit zu gelangen. Wer bis zum bitteren Ende für Gerechtigkeit kämpft, erreicht sie nicht, denn absolute Gerechtigkeit gibt es nicht. Der Vergleich ist ein Instrument, die Gesellschaft zu erziehen. Wenn beide Parteien zum Verzicht bereit sind, gehen sie aufeinander zu und kommen damit der größtmöglichen Gerechtigkeit am nächsten.

Rabbiner Simcha Bunim von Przysucha (1765-1827), ein bedeutender Chassid in Polen, wurde einmal gefragt, warum das Wort Gerechtigkeit, der man nachjagen soll, zweimal in einem Vers steht. Er gab folgende Antwort: Die Gerechtigkeit darf nur mit Gerechtigkeit gesucht werden. Das heißt: Es gibt keine Argumente, auf unlautere Weise zur Gerechtigkeit zu gelangen. Wir haben kein Recht dazu. Obwohl dieser Vers eine Anweisung für den Richter ist, ist doch jeder Einzelne gemeint, denn in unserem täglichen Leben müssen wir oft richten. Wir sollen es mit gerechten Mitteln tun.

Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Duisburg – Mülheim – Oberhausen.

Paraschat Wa’etchanan
Der Wochenabschnitt beginnt mit der erneuten Bitte von Mosche, doch noch das Land betreten zu dürfen. Doch auch diesmal wird sie abgelehnt. Mosche ermahnt die Israeliten, die Tora zu beachten. Erneut warnt er vor Götzendienst und nennt die Gebote der Zufluchtsstädte. Ebenso wiederholt werden die Zehn Gebote. Dann folgt das Schma Jisrael, und dem Volk wird aufgetragen, aus Liebe zu G’tt die Gebote einzuhalten und die Tora zu beachten. Den Abschluss bildet die Aufforderung, die Kanaaniter und ihre Götzen aus dem Land zu vertreiben.

5. Buch Moses 3,23 – 7,11

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