Theater

Das Leben, ein Schicksal

Berlin hat viele Bühnen. Aber diese ist einzigartig und für ein Theaterstück über vergessene Opfer des Nationalsozialismus wie geschaffen: 40 Stufen geht es hinab unter die Erde, hinein in beklemmend niedrige Betonräume, die sich labyrinthisch ins scheinbar Unendliche fortsetzen. Alle fünf Minuten ein lautes Rumpeln hinter der Wand: die U-Bahn. Wir befinden uns in den »Berliner Unterwelten«, einem Bunkersystem nahe dem Bahnhof Gesundbrunnen, erbaut von Zwangsarbeitern während des Zweiten Weltkrieges.

entkommen Hundert Zuschauer haben sich an diesem Samstagabend eingefunden, um ein einzigartiges Ensemble zu erleben: zehn Jungen und Mädchen zwischen 12 und 22, die meisten aus türkischen, arabischen oder afrikanischen Familien. Das wirkliche Leben hat sie bislang nicht gerade verwöhnt. Viele von ihnen hatten oder haben in der Schule Probleme, finden keinen Ausbildungsplatz oder Job. Sie alle müssen darum kämpfen, aus den »Unterwelten« der Gesellschaft herauszukommen.

Die Mitwirkenden treffen sich jede Woche im Café Nightflight, einem offenen Jugendtreff in Räumen der evangelischen Kirchengemeinde Charlottenburg-Nord. Die pädagogische Betreuerin dort, Judith Rahner (31), ersann 2009 ein Projekt, das über die üblichen Breakdance-, Hiphop- und Graffitti-Workshops hinausgeht. Gemeinsam mit Regisseurin Marina Schubarth vom Verein »Berliner Unterwelten« gelang es ihr, etwa 50 Jugendliche zu begeistern, über Migranten in der Zeit des Nationalsozialismus zu recherchieren – insbesondere über schwarze Deutsche und türkische Juden. Einige exemplarische Biografien wurden ausgewählt und ein festes Ensemble aus jungen Schauspielern und Hilfskräften zusammengestellt. Am 19. März 2011 trat die Truppe zum ersten Mal im Bunker am Gesundbrunnen auf.

vermasseln »Ich hab’ noch nie so große Angst gehabt, was zu vermasseln, noch nicht mal bei einer Prüfung«, sagt Volkan Budak. Der arbeitslose 22-Jährige aus Spandau spielt gleich zwei Personen, die ganz unterschiedlich auf das Schicksal des jungen türkischen Juden Isaak Behar reagieren, der der Deportation seiner Familie in letzter Minute entkommt und nun ein Versteck sucht. Volkan verkörpert sowohl einen Bekannten der Behars, der aus Angst, selbst erwischt zu werden, Isaak fortschickt, als auch einen deutschen Industriellen, der Isaak trotz des Risikos weiterhilft.

»Ich wusste bisher überhaupt nicht, dass es türkische und arabische Juden gibt und dass sie damals in Deutschland auch verfolgt wurden«, sagt Volkan. In der Schule hat er zwar von Hitler und der Judenverfolgung gehört. Aber die konkreten Schicksale, die schockierenden Details kamen zu kurz. »Wir spielen hier Sachen, die Menschen wirklich erlebt haben. So ein Leben voller Angst, wie Isaak es damals hatte, würde ich nicht mal meinem schlimmsten Feind wünschen.«

mitten im kiez Die Überlebensgeschichte des in Berlin untergetauchten Isaak Behar, der heute 90 Jahre alt ist, hat Volkan so beschäftigt, dass er seinen türkischen, arabischen und deutschen Freunden viel davon erzählt, wenn sie gemeinsam abhängen im Spandauer Kiez – meistens auf einem Spielplatz hinter braunen Wohnblocks aus der Hitlerzeit. »Meinen Bruder hab’ ich mit dem Thema so zugetextet, dass er sich jetzt auch dafür interessiert.«

Die Berliner Jugendlichen bringen aber auch das Schicksal anderer Opfer des Nazi-Rassenwahns auf die Bühne. So waren aus Afrika stammende Deutsche willkürlichen Erniedrigungen und tödlichen Attacken ausgesetzt. Beispielsweise wurden 1937 in einer geheimen Aktion viele Mischlingskinder zwangssterilisiert.

fasia jansen Das Theaterstück »Vergessene Biografien« bringt die Überlebensgeschichte des afrodeutschen Mädchens Fasia Jansen auf die Bühne, gespielt von der heute gleichaltrigen Cassandra Vouffo (12), deren Eltern 1997 aus Kamerun in die Bundesrepublik einwanderten.

Die Schikanen, denen Schwarze in Nazi-Deutschland ausgesetzt waren, haben Cassandra überrascht und entsetzt: »Es ist richtig krass, was Fasia alles erlebt hat, dass man sie so beleidigt hat.« Fasia Jansen wurde ins KZ Neuengamme verschleppt. Durch Kontakte ihrer weißen Mutter konnte sie zumindest in der Küchenbaracke untergebracht werden. »Dort musste sie verfaulte Kartoffeln putzen und diese dann den Häftlingen zu essen geben«, berichtet die Gymnasiastin.

mischung Anders als Fasia musste Cassandra Vouffo bisher keinen Rassismus erleben. Abgesehen davon, dass ein Mitschüler sie einmal »Neger« nannte. »Das hat mich gekränkt. Aber es haben ihn gleich ein paar andere zur Rede gestellt.«

Eine schwarze Gymnasiastin, ein arbeitsloser junger Deutschtürke, verhaltensauffällige Schüler, erfahrene Laienschauspieler – Projektleiterin Judith Rahner legt Wert auf eine bunte Mischung in ihrem Ensemble. »Es gibt keine Ausgrenzung. Alle wissen: Jeder wird gebraucht.« Rahner hat sich besonders bemüht, die türkisch-arabischen Jugendlichen zu gewinnen, die sonst ihre Zeit auf der Straße verplempern. Anfangs hatten sie keinen Bock auf Theater. Aber Judith Rahner gelang es dennoch, mehrere von ihnen auf dem Umweg über Bühnenaufbau- und »Security«-Jobs zum Recherchieren und Mitspielen zu bewegen.

Gequatsche »Wenn ich ihnen gleich mit den jüdischen Biografien gekommen wäre, hätten sie mich wahrscheinlich gelyncht.« Denn das Thema »Juden« ist bei vielen türkisch-arabischen Jugendlichen vermintes Gelände. In so einem Umfeld gilt »Du Jude« als gängiges Schimpfwort. Die Jugendarbeiterin sagt jedoch, dies sei meistens bloßes »Gequatsche«, über das die Jugendlichen nicht viel nachdächten. »Sie wissen, dass Antisemitismus in der deutschen Gesellschaft ein ganz heißes Eisen ist. Damit spielen sie. Sie provozieren, um in ihrer Clique als cool zu gelten. Und um bei den anderen Beachtung zu finden.«

Nach der Beschäftigung mit den türkisch-jüdischen Biografien hat sich manches geändert. Zu den Proben von Volkan und den anderen kamen manchmal ihre arabisch-türkischen Freunde. Sie zuckten zusammen, als einer von ihnen den Juden Isaak Behar spielte. Aber sie hörten mucksmäuschenstill zu. »Die dabei waren, sind sensibler geworden«, sagt Judith Rahner.

schulabschluss Sie würde auch gerne das Theaterprojekt fortführen – wenn sich dafür finanzielle Mittel finden. Sie ist sicher, dass Biografien auf der Bühne ihre Wirkung in den jungen Köpfen nicht verfehlen, gerade bei Jugendlichen aus bildungsfernen Familien. Der nachdenklich-verschmitzte Volkan ist inzwischen in ein anspruchsvolles Berliner Laientheater aufgenommen worden. Er will den Realschulabschluss nachholen, um danach auf eine Schauspielschule zu gehen.

Sein Ziel ist es, Fernsehfilme zu drehen. Am besten als Comedian. »Wenn diese Jugendlichen gebraucht, beachtet und auch mal gelobt werden«, sagt Rahner, »dann entwickeln sie einen wahnsinnigen Ehrgeiz.« Wer die strahlenden Gesichter gesehen hat, mit denen die jungen Schauspieler nach einem tosenden Applaus die »Berliner Unterwelten« verlassen, wird ihr kaum widerspechen können.

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